Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin sprach beim 15. Bornheimer Ortsgespräch über kontroverse Themen, darunter den Vorstandswechsel bei den Grünen, die AfD-Politik, Migration und die US-Wahlen.
15. Bornheimer OrtsgesprächJürgen Trittin sprach über Rücktritt des Grünen-Parteivorstands
Noch nie war ein Bornheimer Ortsgespräch so stark von den tagesaktuellen Ereignissen geprägt wie die Talkrunde mit dem Grünen-Politiker Jürgen Trittin in der voll besetzten Oase in der Bornheimer Europaschule. Rund 90 Gäste waren dabei. Auch ein Team des gemeinsamen Nachrichtenkanals von ARD und ZDF, Phoenix, war nach Bornheim gekommen, um den Ex-Bundestagsabgeordneten im Anschluss zu interviewen.
Dominik Pinsdorf, Ortsvorsteher von Bornheim-Ort und Gastgeber der Ortsgespräche, stellte die entscheidende und mit Spannung erwartete Frage nach dem überraschenden Rücktritt der Grünen-Spitze Ricarda Lang und Omi Nouripour am Mittwochnachmittag erst gegen Ende des Ortsgesprächs. Der Rücktritt des Vorstandes der Grünen Jugend am selben Abend und deren Ankündigung, einen eigenen Verband zu gründen, war während des Ortsgesprächs noch nicht bekannt.
Grünen-Krise: Jürgen Trittin spricht in Bornheim
Trittin selbst hatte erst kurz vor der Pressekonferenz von der Entscheidung erfahren. Für ihn sei dies nach den schlechten Ausgängen bei der Europawahl und den drei Landtagswahlen der „richtige Schritt“ gewesen: „Ich habe Respekt davor, dass der Bundesvorstand rechtzeitig vor dem Parteitag im November dafür die Verantwortung übernimmt.“ Dies habe aber nichts damit zu tun, dass Lang und Nouripour Schuld daran hätten, dass die Grünen in den Landtagen in Brandenburg und Thüringen aus dem Parlament geflogen seien. Wichtig sei es nun, dass die Grünen sich neu aufstellten und mit neuen Themen in den Bundestagswahlkampf gehen würden. Gefreut habe Trittin, dass sich Vize-Kanzler Robert Habeck auf dem anstehenden Parteitag in Wiesbaden zu seiner Kanzlerkandidatur einer geheimen Abstimmung stellen werde: „Ich gehe von einer großen Mehrheit für ihn aus. Robert Habeck ist für mich der richtige Kandidat, mit dem wir in die anstehende Wahlauseinandersetzung gehen werden.“
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Jürgen Trittin, der im Januar sein Bundestagsmandat nach 25 Jahren niedergelegt hatte, aber über die niedersächsische Landesliste doch noch einmal in den Bundestag einziehen konnte, bezog auch Stellung zu anderen aktuellen Themen mit klaren Worten, etwa dem Abschneiden der AfD in Ostdeutschland, zur Migration, zum Ukrainekrieg oder zur bevorstehenden US-Wahl. Das Argument der Protestwahl ließ der 70-jährige Politiker nicht gelten: „Dem widerspreche ich. Diejenigen, die die AfD gewählt haben, haben dies bewusst und aus Überzeugung getan. Sie wussten, was sie taten und dass sie eine als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei wählen.“ Die demokratischen Parteien müssten sich nun ernsthaft mit der AfD auseinandersetzen, denn die Partei stehe mit ihrer Migrationspolitik für eine „ethnische Säuberung“.
Die ländlichen Regionen, in denen sich die Menschen mehrfach für die AfD entschieden hätten, seien keine Regionen, in denen die Bürger von Zuwanderern überrannt würden, wie dies in größeren Städten der Fall sei: „Sie wollen ihre soziale Infrastruktur dem Rassismus opfern. Wir dürfen es nie wieder zulassen, Antidemokraten an die Macht zu lassen.“ Hitler und die NSDAP seien damals auch nicht mit einer großen Mehrheit an die Macht gekommen. Als sie dann regierten, hätten sie die Demokratie innerhalb von zwei Monaten zerstört. Trittin betonte auch, dass es Zuwanderung brauche, um auf allen Ebenen dem Fachkräftemangel und demografischen Wechsel zu begegnen, ob es um hoch qualifizierte Tätigkeiten oder einfache Arbeiten gehe. Daher sei es wichtig, Geflüchtete zu integrieren: „Der beste Weg, die Bürgergeld-Zahlen zu reduzieren, ist es, Menschen in Arbeit zu bringen. Das vermisse ich in der politischen Debatte.“ Zudem plädierte er für eine gemeinsame gerechte europäische Flüchtlingspolitik.
Trittin zum BSW: Träume aus vergangenen Tagen
Auch zum Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) äußerte sich Trittin: „In meinen Augen träumt die Partei von einer Retrosozialpolitik der achtziger Jahre und von einer Arbeitswelt, die es heute nicht mehr gibt.“ Den klassischen männlichen Arbeiter, gewerkschaftlich organisiert, gebe es kaum noch. Die Arbeitswelt heutzutage sei viel diverser mit einem höheren Dienstleistungs- und Frauenanteil als vor 40 Jahren: „Ich glaube nicht, dass der Weg des BSW langfristig erfolgreich sein wird“. Die Haltung des BSW zu Putin und dem Ukraine-Krieg kritisierte der Grünen-Politiker ebenfalls: „Sie argumentieren mit der Ausweglosigkeit des Krieges und der Angst, der Krieg könnte auch zu uns kommen. Wir sollten aber mehr Angst davor haben, dass die Ukraine von Russland überrannt wird. Daher bin ich auch nicht gegen Waffenlieferungen.“
Stoppen lassen werde sich Putin nicht bevor es in den USA eine Wahlentscheidung gegeben habe, meinte Trittin. „So lange verheizt er jeden Tag Hunderte Menschen in seinem Abnutzungskrieg.“ Wenn dieser so weitergehe, entscheide sich am Ende, welches Land mehr Menschen zum Sterben haben. Erst nach dem Ausgang der US-Wahlen werde der russische Präsident neu kalkulieren. Politische Vereinbarungen hängen zudem stark von der Ukraine ab: „Es steht uns nicht an zu entscheiden, welche Teile die Ukraine vielleicht abtreten soll.“
Trittin: In Sachen Putin getäuscht
Dominik Pinsdorf fragte auch nach, ob Trittin, der Putins Rede im Bundestag 2001 erlebt hatte, mit dem Krieg in der Ukraine gerechnet hatte? „Auch wir Grüne haben uns getäuscht. Wir hätten nicht gedacht, dass Putin wirtschaftliche Schäden für sein Land, für die Ukraine riskiert.“ Doch Autokraten wollen ihre Herrschaft sichern: „Das funktioniert nur über Aggression“. Von seinem Gesprächspartner wollte Pinsdorf auch etwas über die Anfänge der Grünen wissen, beispielsweise als sie 1985 in den niedersächsischen Landtag eingezogen waren: „Wir wurden damals als exotisch angesehen und waren die Partei, die von Dioxinen und Giftmüll redeten, weil wir uns mit diesen Themen besser auskannten als die anderen Parteien.“
Als die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder (SPD, 1998-2002) angetreten war, sei dies wie ein Aufstieg in die Champions League gewesen: „Wir waren ja alle Profis, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Joschka Fischer und ich, wir haben das Saarland, Niedersachsen und Hessen regiert, also können wir auch Deutschland regieren. Wir haben aber schnell gemerkt, dass das eher war, als würde der SV Meppen gegen den FC Barcelona spielen.“ Trotz aller Herausforderungen und Konflikte zwischen den beiden Regierungsparteien sei die Verlässlichkeit wichtig gewesen. „Das habe die rot-grüne Regierung von der Ampel heute unterschieden: Auch wir haben heftig diskutiert. Wenn wir einen Kompromiss gefunden haben, dann haben wir uns an diese Verabredungen auch gehalten.“
Und dann war da ja noch die Einführung des Dosenpfandes 2001, die bis heute mit dem Namen Trittin verbunden ist. Es gelang ihm, sich gegen die Lobbyarbeit großer Getränkekonzerne durchzusetzen. Rückblickend sei dies für ihn „ein Lehrstück gewesen, dass sich die Politik nicht von den Großen diktieren lässt, was sie machen soll.“ Das Dosenpfand hätte auch zu weniger Vermüllung der Landschaft beigetragen. Daher plädierte Trittin auch dafür, Pfand auf Einwegverpackungen und Weinflaschen zu erheben.