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Gullydeckel-ProzessViele „Ungereimtheiten“ – Haftstrafe für vorgetäuschten Anschlag

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Bad Berleburg: Das Foto zeigt die zerstörte Frontscheibe eines Zuges der Hessischen Landesbahn.

  1. Der Fall von Lokführer Thomas C. ist schier unglaublich. Nun wurde er im Gullydeckel-Prozess zu einer Haftstrafe verurteilt.
  2. Bei den Ermittlungen fanden die Beamten zahlreiche „Ungereimtheiten“ im Leben von Thomas C.

Bad Berleburg – Erst beim letzten Wort bricht der Angeklagte endlich sein Schweigen. Viel zu sagen hat er allerdings nicht. „Ich habe mit der Sache nichts zu tun“, beteuert er. Dann kehrt er wieder zurück zu seiner stoischen Ruhe, die Arme auf seinem runden Bauch abgelegt wie auf einem Ball, den kahlen Kopf ins Doppelkinn gegraben. Doch seine minimale Einlassung kann Richter Torsten Hoffmann da schon lange nicht mehr beeindrucken.

Eine Stunde später verurteilt er Lokführer Thomas C. wegen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr und Vortäuschung einer Straftat zu einem Jahr und neun Monaten Haft ohne Bewährung und folgt damit der Forderung der Staatsanwaltschaft. Das Amtsgericht von Bad Berleburg im Hochsauerland sieht es als erwiesen an, dass der 49-Jährige einen Anschlag auf sich selbst verübte.

Der Fall von Lokführer Thomas C. ist schier unglaublich. Nach Überzeugung des Gerichts hat er in der Nacht vom 12. auf den 13. April 2019 zuerst vier Gullydeckel aus einer Landstraße ausgehoben, sie an Seile geknotet und sie dann von einer Brücke herabgelassen, die über jene Bahnstrecke führt, die er wenig später selbst befahren wird.

Sein Handy ließ er zuhause

Sein Handy hatte er zuhause gelassen, um nicht durch die Funkzellenauswertung überführt werden zu können. Gegen 5:45 Uhr nimmt er in Erndtebrück seine Regionalbahn 93 in Betrieb. Mit 52 Stundenkilometern rauscht er in das Hindernis. Zwei der jeweils 32 Kilogramm schweren Metallteile durchschlagen die Windschutzscheibe seines Führerhauses. Ein dritter Gullydeckel wurde später im Gleisbett gefunden, offenbar war die Anbringung gescheitert. Den Vierten hatte C. vor einer Realschule abgelegt, wohl um den Verdacht auf ein paar übermütige Schüler zu lenken. Der Vorfall habe zu einer erheblichen „Verunsicherung der Menschen“ geführt, sagt Richter Hoffmann, der sachlich und ohne jede Emotion den dreitägigen Indizienprozess geleitet hat.

Der vermeintliche Anschlag hatte die NRW-Landesregierung in einen Alarmzustand versetzt. Die Polizei konnte eine politisch motivierte Tat nicht ausschließen, man fürchtete anfangs Islamisten könnten dahinterstecken. Eilig wurde eine Mordkommission gebildet, 19 Beamte arbeiteten in der Spitze an der Aufklärung, der Staatsschutz wurde eingeschaltet, andere Ermittlungen wurden zurückgestellt. Die Politik verlangte offenbar nach schnellen Ergebnissen. Man habe bis hoch zum Minister berichten müssen, sagt der damalige Chef der Mordkommission am Freitag als letzter von mehr als einem Dutzend Zeugen. „Es wurde wegen Ihnen ein erheblicher Aufwand betrieben“, wirft der Staatsanwalt dem Angeklagten in seinem Plädoyer vor.

Spektakuläre Wende nach wenigen Tagen

Nach wenigen Tagen dann die spektakuläre Wende. Der Lokführer selbst geriet ins Visier der Ermittler. Die Beamten hatten seine DNA-Spuren an den Gullydeckeln, den Seilen und Knoten gefunden. In den Vernehmungen hatte C. zwar bereits gesagt, unmittelbar nach der Tat einzelne Tatgegenstände berührt zu haben. Wie aber das Genmaterial an eines der bei der Kollision abgerissenen Seile gekommen war, das knapp drei Meter über den Gleisen baumelte, konnte er nicht aufklären.

Die Indizienkette wurde immer dichter. Im Kofferraum und an den Handschuhen des Angeklagten fand die Polizei Faserspuren, die auch farblich zu den Seilen an der Vorrichtung passten. Die Ermittler errechneten zudem, dass C. erst sieben Meter vor dem Einschlag reagiert habe. Demnach habe er nur eine halbe Sekunde Zeit gehabt, die Notbremsung einzuleiten, die Arretierung seines Sitzes zu lösen, sich zur Seite zu drehen und sich wegzuducken. „Das ist unmöglich“, sagt der Ermittlungsleiter. Die Polizei geht davon aus, dass C. sich schon in hockender Position befand, als er die Bremse betätigte.

Ermittler finden zahlreiche „Ungereimtheiten“ im Leben von Thomas C.

Der Fall gibt Rätsel auf. „Es gibt ein Puzzleteil, das fehlt“, sagt Richter Hoffmann in seiner Urteilsbegründung. „Das Motiv.“ Genau damit hatten sich auch die Ermittler beschäftigt.

Sie durchleuchteten das Leben von C. und stießen dabei auf zahlreiche „Ungereimtheiten“, wie es der Ermittlungschef nannte. Demnach wurde C. in den vergangenen Jahren auffällig oft Opfer von Straftaten. Einmal sei er nach seiner Schicht überfallen worden, zwei Mal habe sein Auto gebrannt, drei Mal seien unbekannte Täter in seine Wohnung eingebrochen. Bei der Hausdurchsuchung im Rahmen der Anschlagsermittlungen hätten sie ein Navigationsgerät gefunden, das C. nach einem der Einbrüche als gestohlen gemeldet hatte. Anderes Diebesgut habe er nur wenige Tage vor einem Einbruch fotografiert. Schon am ersten Verhandlungstag hatte ein Kripo-Beamter angedeutet, bei C. könne es sich um einen Versicherungsbetrüger handeln.

Die Ermittler widmeten sich auch einem spektakulären Kriminalfall aus dem Jahr 2008, in dem der Name Thomas C. auftaucht. Damals wurden Mutter und Oma des Angeklagten nachts in ihrem gemeinsamen Haus im Dortmunder Stadtteil Eving überfallen und ermordet. Die Ermittler hätten damals DNA-Spuren von C. genau an jenem Fenster sichergestellt, durch das auch der Täter gestiegen war. Zwischenzeitlich wurde er als Tatverdächtiger geführt worden. Im Jahr 2011 suchte die Polizei über die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ nach neuen Spuren. Vergeblich. Der Fall ist bis heute nicht geklärt.

„Wir haben uns natürlich gefragt, wo ist das ganze Geld geblieben?“

Der Mörder habe Insiderwissen gehabt, sagt der Leiter der Mordkommission am Freitag vor Gericht. Damaligen Medienberichten zufolge hatten die beiden Frauen mindestens 10.000 Euro in bar an verschiedenen Orten des Hauses versteckt. C., zu dieser Zeit laut Polizei hoch verschuldet, wurde zum Alleinerben des Hauses und habe kurze Zeit später 19.000 Euro auf sein Konto eingezahlt. Für die Immobilie habe er 150.000 Euro erlöst.

Trotzdem habe er vor dem Gullydeckel-Anschlag erneut mit 38.000 Euro in der Kreide gestanden. „Wir haben uns natürlich gefragt, wo ist das ganze Geld geblieben?“, sagt der Ermittlungschef. Spuren fanden sie schließlich auf seinem Computer. Bei der Auswertung der Datenträger seien sie auf Seiten von Escort-Damen und Bordellen gestoßen. Aber auch andere Suchanfragen hätten sie stutzig gemacht. Demnach suchte C. nach K.o.-Tropfen, giftigen Pflanzen und Bauplänen für Pistolen und Schalldämpfer. „Das ist doch nicht normal“, entfährt es dem Polizisten.

Geld allerdings fällt in diesem Fall wohl als Motiv aus. „Wieso hätte er das tun sollen?“, fragt Verteidiger Dennis Tungel in seinem Plädoyer. Er habe keinerlei Vor-, sondern nur Nachteile gehabt. Der Job ist weg, die psychisch Belastung groß und eine Versicherung, die etwa im Fall einer Berufsunfähigkeit gezahlt hätte, habe es nicht gegeben. Zudem seien weitere DNA-Spuren, die man am Tatort gefunden habe, nicht abgeglichen worden. „Wir werden Rechtsmittel einlegen“, kündigt er an. Tungel hatte einen Freispruch gefordert.