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Niederlage des RNWarum es in Frankreich nun erst richtig kompliziert wird

Lesezeit 7 Minuten
Frankreich, Paris: Frankreichs Premierminister Gabriel Attal hält eine Rede nach den ersten Ergebnissen der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen.

Frankreich, Paris: Frankreichs Premierminister Gabriel Attal hält eine Rede nach den ersten Ergebnissen der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen.

Nach den chaotischen Parlamentswahlen in Frankreich sieht sich das Land mit einer komplizierten politischen Landschaft konfrontiert. Wie soll nun regiert werden?

Bis tief in die Nacht hinein feierten sie auf dem Pariser Platz der Republik, einer traditionellen Bastion der Linken, die Ergebnisse der Parlamentswahlen. Tausende stimmten Lieder an, klatschten, fielen einander in die Arme. Manche kletterten sogar mehrere Meter hinauf zur Statue der Marianne, die Frankreich symbolisiert. „Antifaschisten“ stand in roter Farbe auf einem dort angebrachten weißen Transparent. „Es ist ein doppelter Sieg: die Linken triumphieren, die Rechtsextremen sind ausgebremst“, rief ein junger Mann. „Glück, Glück, Glück!“, jubelte eine Seniorin. Auch wenn es jetzt nach den Wahlen mit ihrem uneindeutigen Ausgang erst so richtig kompliziert werde. Das sei ihr schon klar.

Später in dieser Nacht auf Montag kam es auch zu Ausschreitungen und Zusammenstößen von Demonstranten mit der Polizei in Paris, Lille und anderen französischen Städten. Doch die Feierstimmung überwog unter den Anhängern der Linken, sobald die anfängliche Ungläubigkeit über die ersten, überraschenden Hochrechnungen überwunden war. Das links-grüne Bündnis Neue Volksfront lag am Ende mit 182 Sitzen in der Nationalversammlung – vor dem Lager von Präsident Emmanuel Macron mit 168 Sitzen und dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) mit 143 Sitzen.

Die Umfrageinstitute hatten eine völlig andere Konstellation vorhergesagt. Sie sahen den RN deutlich an erster und das Parteienbündnis von Macron an dritter Stelle. Aus dessen Umfeld hieß es, die hohe Wahlbeteiligung von 67 Prozent bestätige, dass die Auflösung der Nationalversammlung am Abend der EU-Wahlen vier Wochen zuvor die richtige Entscheidung gewesen sei. Ging das so umstrittene wie riskante Spiel des Präsidenten also doch auf?

Während sich das bisherige Regierungslager besser behaupten konnte als erwartet, herrschte beim RN Katerstimmung. Die rechtsextreme Partei hatte sich an der Pforte zur Macht geglaubt – umso größer war die Enttäuschung. Eine Rolle dürften auch die Enthüllungen der letzten Tage über rassistische oder antisemitische Äußerungen einiger Kandidaten gespielt haben.

Bisher kannte die Öffentlichkeit in erster Linie die RN-Frontfrau Marine Le Pen, Parteichef Jordan Bardella und noch ein paar andere aus der Führungsriege, die sich vor den Kameras wohlfühlen und sich klar an Le Pens Sprach-Vorgaben halten. Doch die rund 500 in aller Eile aufgestellten RN-Kandidaten vermochte die Parteispitze nicht zu kontrollieren. So ging unter anderem das Video einer Bewerberin viral, die versicherte, sie sei weder rassistisch noch antisemitisch, denn „mein Zahnarzt ist Muslim und mein Augenarzt jüdisch“.

Trotz der Niederlage stimmten rund zehn Millionen Menschen für den RN

Ja, ein paar „schwarze Schafe“ habe es gegeben, räumten mehrere Partei-Vertreter ein. „Natürlich müssen wir unsere Fehler aufarbeiten“, sagte RN-Vizepräsidentin Edwige Diaz am Montag betont sachlich. „Aber wir dürfen jetzt auch nicht den historischen Sieg übergehen, den wir errungen haben: Bis vor zwei Jahren waren wir sieben in der Nationalversammlung, dann 88 und jetzt 143.“ Tatsächlich gehört es zur Wahrheit, dass rund zehn Millionen Menschen für die Partei von Marine Le Pen stimmten. Deren Ziel, die nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 zu gewinnen, gilt weiterhin als gesetzt. Und die Gründe vieler Menschen, dem RN ihr Vertrauen zu schenken, bestehen weiter.

Diaz beklagte das „Geköchel“ der anderen Parteien, die sich zu „Allianzen wider die Natur“ zusammengetan hätten. In mehr als 200 Wahlbezirken, in denen sich in der ersten Runde Kandidaten der drei großen politischen Blöcke qualifiziert hatten, zogen sich Bewerber von Macrons Mitte-Lager oder der Linken zurück, um jene des RN zu verhindern. Die „republikanische Front“ habe funktioniert, sagte der Chef des Meinungsforschungsinstitutes Odoxa, Gaël Sliman. „Doch möglicherweise ist es für den RN langfristig gar nicht so schlecht, wenn er jetzt nicht in der Regierung und das Land ein wenig blockiert ist, weil er nicht Verantwortung übernehmen muss.“

Wird Frankreich nun unregierbar?

Diese Frage dominierte die politischen Debatten am Tag danach, an dem Präsident Emmanuel Macron wie schon am Sonntagabend abermals nicht öffentlich in Erscheinung trat. Allerdings berichteten Augenzeugen den Medien, er habe die Ergebnisse am Wahlabend „mit einer gewissen Zufriedenheit“ aufgenommen. „Für ihn war es undenkbar, im Ministerrat Jordan Bardella gegenüber zu sitzen“, verriet der Schriftsteller Bernard-Henri Lévy, einer von Macrons regelmäßigen Gäste. Wer aber wird nun an dem eleganten Tisch im Élysée-Palast genau gegenüber dem Präsidenten Platz nehmen und die Regierungsgeschäfte leiten? Und mit welchen Ministern?

Einen sofortigen Wechsel wird es ohnehin nicht geben. Der bisherige Premierminister Gabriel Attal hatte am Sonntagabend in einer kämpferischen Rede angekündigt, dem Präsidenten am Montag seinen Rücktritt anzubieten, so wie es die Verfassung vorsieht. Im Anschluss an das Gespräch teilte der Élysée-Palast dann aber mit, Macron habe Attal gebeten, „für den Moment“ in seiner Funktion zu bleiben, um „die Stabilität des Landes abzusichern“.

Formal gibt es zwar keine Frist, bis zu der nach der Wahl eine Regierung stehen muss. Allerdings kommt die Nationalversammlung in ihrer neuen Zusammenstellung am 18. Juli erstmals zusammen. Nur eine Woche später beginnen die Olympischen Spiele in Paris – der schlechteste Zeitpunkt für eine Regierungskrise oder Unsicherheit an der Spitze des Landes.

Mehrere Optionen bieten sich an, sagt Luis Sattelmayer, Forscher am Zentrum für Europäische Studien CEE an der Elitehochschule Sciences Po Paris. „Rein theoretisch kann Macron zum Premierminister ernennen, wen er möchte, aber angesichts seiner fehlenden Mehrheit in der Nationalversammlung besteht das Risiko, dass es bei der ersten Abstimmung zu einem Misstrauensvotum kommt.“ Dasselbe könnte den Linken passieren, sollten sie sich auf eine Person einigen, die nicht mehrheitsfähig ist.

„Entweder es gelingt die Bildung von Koalitionen, die es in der seit 1958 bestehenden Fünften Republik nicht gab“, so der Experte. „Oder es gibt eine Minderheitsregierung, wie Macron sie im Grunde seit zwei Jahren hatte, wo er mithilfe der Republikaner viele Gesetze durchgeboxt hat.“ Als weitere Möglichkeit wird eine Regierung aus „Technokraten“ statt Parteipolitikern genannt, die das Land verwalten. Zunächst dürfte der Präsident abwarten, bis sich die Fraktionen herausbilden.

Mehrere Vertreter der siegreichen Neuen Volksfront haben derweil angekündigt, noch in dieser Woche den Vorschlag für einen neuen Premierminister oder eine -ministerin zu machen. Dafür muss das Bündnis zunächst eine Grundsatzfrage beantworten: Akzeptiert es Jean-Luc Mélenchon als Galionsfigur oder nicht? Der langjährige Chef der Linkspartei LFI selbst wollte schnellstmöglich Fakten schaffen, indem er am Wahlabend wenige Minuten nach Bekanntgabe der Ergebnisse seine ersten Drohungen in Richtung Präsident schickte.

„Macron muss der Neuen Volksfront den Regierungsauftrag erteilen“, tönte er. „Sie wird ihr Programm anwenden, nichts als ihr Programm, aber ihr ganzes Programm.“ Einen Teil der Maßnahmen zählte der 72-Jährige auf, darunter die Rücknahme der letzten Rentenreform, eine Deckelung der Preise von Alltagsprodukten und die Erhöhung des Mindestlohns. Wie er sie ohne absolute Mehrheit umsetzen will, während er Verhandlungen mit Macrons Lager ausschloss, sagte Mélenchon nicht.

Mélenchon hat im linken Lager viel politisches Kapital verspielt

Der wortgewaltige Polit-Veteran hat innerhalb des linken Lagers in den vergangenen Jahren viel politisches Kapital verspielt. Die Chefs der Sozialisten und der Kommunisten, Olivier Faure und Fabien Roussel, sprachen sich bereits gegen eine wichtige Rolle für ihn aus. Der LFI-Abgeordnete François Ruffin, ein interner Konkurrent für die Präsidentschaftskandidatur 2027, bezeichnete ihn als „Bürde“. „Ein guter Premierminister muss das Land beruhigen, sein Lager vereinen“, sagte die Grünen-Chefin Marine Tondelier. Mélenchon könne das nicht. Tatsächlich hatten viele Links-Wähler gesagt, sie könnten nicht für ein Bündnis mit seiner Beteiligung stimmen.

Umstritten ist der ehemalige Sozialist, der die Partei 2008 verließ, unter anderem aufgrund seines harschen Umgangs mit Kritikern. Zuletzt schadeten ihm Antisemitismus-Vorwürfe, nachdem LFI sich weigerte, die Anschläge der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 als „terroristisch“ zu bezeichnen. Sattelmayer hält die Vorwürfe für unzutreffend, Mélenchon habe auch für die Opfer Mitgefühl geäußert. Aber aus wahltaktischen Gründen blieb der Hauptfokus auf der Verteidigung der Palästinenser.

Als linksextrem ist Mélenchon dem Politikwissenschaftler nicht einzustufen. „Er redet laut und tritt kompromisslos auf, aber er ist weit davon entfernt, Frankreich aus der EU oder der Nato führen zu wollen“, sagt Sattelmayer. Das Programm der Neuen Volksfront ähnele dem des einstigen sozialistischen Präsidenten François Mitterrand bei dessen Antritt 1981. Hinzu komme, dass LFI in den Augen vieler umso radikaler erscheine, je mehr der Diskurs aller Parteien, auch der Sozialisten, nach rechts rücke.

Doch diese Entwicklung wurde nun ausgebremst. In Frankreich begann am Sonntag etwas Neues, mit dem alten Präsidenten an der Spitze. Wie es aussieht, wo es hinführt, das blieb derweil im Unklaren.