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Interview

Sahra Wagenknecht
„Ohne billigere Energie wird unser Land seine Industrie verlieren“

Lesezeit 7 Minuten
Sahra Wagenknecht, Bundesvorsitzende des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)

Sahra Wagenknecht, Bundesvorsitzende des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)

Ihr Bündnis sieht sie trotz sinkender Umfragewerte auf gutem Kurs zur Bundestagswahl. Ihre anvisierte Strategie: stärkere Fokussierung auf Alltagssorgen der Bürger und verstärkter Blick auf den Mittelstand.

Im ersten Jahr hätte es für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) kaum besser laufen können. Zur Bundestagswahl scheint aber der Schwung nachzulassen. Scheitert die Partei an der Fünf-Prozent-Hürde? Darüber spricht Thomas Ludwig mit der Namensgeberin und Parteichefin.

Sie haben soeben das einjährige Bestehen des BSW gefeiert. Welche Erfahrungen nehmen Sie aus dem ersten Jahr mit?

Es war ein anstrengendes, aber auch ein unglaublich motivierendes Jahr. Wir sind angetreten, die Politik in Deutschland zu verändern. Wir haben so viel Unterstützung bekommen und so viel erreicht wie vor uns noch nie eine Partei im ersten Jahr ihres Bestehens. 6,2 Prozent bei der Europawahl, zweistellige Ergebnisse bei drei Landtagswahlen, Einzug in zwei Landesregierungen. Dass die SPD in der Friedensfrage nicht komplett gekippt ist, ist auch unser Verdienst. Jetzt stehen wir vor der fünften und wichtigsten Wahl unserer kurzen Parteiengeschichte.

Im Herbst lag das BSW noch bei zehn Prozent, nun dümpeln Sie bei vier bis sechs Prozent, der Einzug in den Bundestag wackelt. Wie wollen Sie das Ruder herumreißen?

Viele Menschen haben sich noch nicht entschieden, wen sie wählen. Das gilt in besonderem Maße für von uns erreichbare Wähler. Denn im Unterschied zu den anderen Parteien haben wir noch keine Stammwählerschaft. Bundestagswahlen sind für neue Parteien schwer, weil oft taktisch gewählt wird. Noch nie hat es eine beim ersten Mal geschafft. Aber die Lage ist heute eine andere. Unser Land befindet sich in einer schweren Krise. Die Kriegsgefahr wächst. Es kann doch nicht sein, dass nach der Wahl die alten Parteien, die uns die Misere eingebrockt haben, und dazu gehört auch die CDU, einfach in neuer Konstellation weitermachen. Und die Trump-Freunde von der AfD sind auch keine Alternative. Wir haben die besseren Konzepte.

Geben Sie bitte ein Beispiel.

Etwa zur Senkung der Energiepreise. Ohne billigere Energie wird unser Land seine Industrie verlieren.

Indem Deutschland durch die Wiederbelebung der Nord-Stream-Pipeline wieder russisches Gas importiert?

Nicht nur. Aber es beginnt damit, dass wir unsere Energieimporte wieder am Kriterium des niedrigsten Preises ausrichten. Wenn die Amerikaner uns Gas zu konkurrenzfähigen Preisen verkaufen, sollten wir es kaufen; aber nicht zum dreifachen dessen, was Gas in den USA kostet und wofür Russland liefern würde. Bei Strom müssen wir weg vom blinden Aktivismus, der nur auf den Ausbau der erneuerbaren Energien setzt. Außerdem: Ein Viertel der Strompreise sind Netzentgelte. Sie sind so hoch, weil wir den privaten Netzbetreibern sieben Prozent Eigenkapitalrendite staatlich garantieren. Das zahlt der Stromkunde. Der Staat sollte, wie in anderen Ländern, den Netzausbau selbst übernehmen. Wenn die Wirtschaft wieder fit werden soll, brauchen wir zudem eine Modernisierung unserer Infrastruktur: Straßen, Brücken, Schienen, digitale Netze. Schon unter Angela Merkel hat man das viel verfallen lassen. Dafür fehlte wegen der Schuldenbremse angeblich das Geld, zugleich wurden immense Schulden für unsinnige Dinge gemacht, ich erinnere an die Coronapolitik, die Lockdowns, die Maskendeals. Die verfehlte Energiepolitik der Ampel wurde mit gigantischen Schulden subventioniert. Stattdessen brauchen wir Investitionen in unser Bildungssystem, in die Infrastruktur oder den Wohnungsmarkt.

Investitionen in die Infrastruktur wollen auch andere Parteien ankurbeln.

Es gibt einen Investitionsstau in Höhe von etwa 600 Milliarden Euro. Wer den Leuten einredet, das könne man zusammenbringen, indem man beim Bürgergeld kürzt, ist einfach unseriös. Anders als CDU und AfD setzen wir uns für eine Reform der Schuldenbremse ein. Investitionen sollten ausgeklammert werden.

Das BSW setzt auch in anderen Bereichen auf mehr Regulierung, etwa beim Wohnungsmarkt. Lässt sich mit massiven staatlichen Eingriffen bessere Politik machen?

Der beste Schutz für den Kunden ist ein funktionierender Markt, der fairen Wettbewerb erzwingt. Aber in vielen Bereichen funktioniert der Markt nicht, der Wohnungsmarkt ein Beispiel. Der Mieter ist Mietsteigerungen ausgeliefert, weil er gar keine andere Wohnung findet, gerade in Städten. Es fehlen 800 000 Wohnungen, aber die Bauerwirtschaft ist in der Krise, es wird nicht gebaut. Das liegt auch an teilweise idiotischen Bauvorschriften, aber vor allem an gestiegenen Zinsen und hohen Renditeerwartungen. Statt die Ausgaben für Wohngeld und Wohnkostenzuschüsse für Bürgergeldempfänger immer weiter zu erhöhen, also Steuergeld direkt an die Immobilienlobby weiterzureichen, sollte man Mieten deckeln und kommunale wie gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft mit günstigen Förderkrediten beim Bauen unterstützen. Der Staat muss eingreifen, wo der Markt versagt. Zurzeit bekommen allerdings vor allem große profitable Unternehmen staatliche Subventionen, während die kleineren leer ausgehen und in die Insolvenz geschickt werden. Der Mittelstand muss deutlich stärker in den Blick rücken.

Sie wollen im Wahlkampf also stärker auf die Alltagssorgen der Bürger eingehen und weniger auf Friedens- und Sicherheitsfragen, wie den Ukraine-Krieg und die Stationierung von Mittelstreckenraketen?

Nein, die Friedensfrage bleibt wichtig. Der Satz von Willy Brandt stimmt: Ohne Frieden ist alles nichts. Derzeit überbieten sich alle Parteien von Grünen bis zu Union und AfD in Forderungen, noch mehr Geld in Waffen zu stecken. Die Menschen in Deutschland sollen an den Gedanken gewöhnt werden, dass Krieg irgendwann auch nach zu uns kommt. Herr Merz will der Atommacht Russland mit der Lieferung von Taurus-Raketen praktisch den Krieg erklären. Die Standhaftigkeit der SPD in dieser Frage wird davon abhängen, ob es ein starkes BSW im nächsten Bundestag gibt. Auch deshalb werden wir gebraucht.

Sie stellen sich auf die parlamentarische Opposition ein?

Unser Land braucht einen politischen Neubeginn. Eine Regierung, die den Mut dazu aufbringt, würden wir gern mittragen. Aber das funktioniert nicht mit den gescheiterten Politikern der letzten Jahre und auch nicht mit einem, von seiner Karriere bei Finanzhaien geprägten Friedrich Merz. Unser Vorschlag wäre eine Regierung aus unabhängigen Fachleuten mit echter Expertise und Rückgrat, die bei ihren Entscheidungen auch nicht darüber nachdenken, wie ihre Anschlussverwendung in der Wirtschaft aussehen könnte.

Das ist doch unrealistisches Wunschdenken. Müssen sich Wähler da nicht fragen, ob eine Stimme für das BSW eine verschenkte Stimme ist?

Die wirtschaftliche Lage ist ernst, ein Kompetenz-Kabinett, für das nicht in erster Linie zählt, ob man sich in seiner Partei hochgearbeitet hat, sondern ob man fachlich qualifiziert ist, wäre ein Gebot der Stunde. Und klar, unsere Gegner werden versuchen, den Wählern einzureden, eine Stimme für das BSW wäre verschenkt. In Wahrheit sind all die Stimmen verschenkt, die im Ergebnis nur bewirken, dass an den gescheiterten Rezepten der letzten Jahre festgehalten wird und es weiter bergab geht. Wir sollten die alten Parteien nicht mit den Elon-Musk-Verehrern von der AfD im Bundestag allein lassen. Denn sonst wird niemand mehr widersprechen, wenn im Bundestag immer dickere Waffenschecks beschlossen und dafür weiter zulasten von Rentnern, Kranken und Armen gekürzt wird.

Apropos, bisher gelingt es dem BSW nicht, der AfD potenzielle Wähler abzujagen, die Partei steht stabil bei rund 20 Prozent in Umfragen. Woran liegts?

Vor einem Jahr hatte die AfD 23 Prozent, bei der Europawahl waren es knapp 16 Prozent. Natürlich hatte das mit uns zu tun. Aber zu glauben, dass eine junge Partei die etablierte Oppositionspartei, die die AfD ja inzwischen ist, mal eben vom Platz fegen kann, während die schlechte Politik, die ja der Nährboden der AfD-Erfolge ist, weiter ungebremst fortgesetzt wird, wie absurd ist das denn? Wer die AfD tatsächlich schwächen will, muss unser Land aus der Krise führen. Die AfD hat starke Strukturen, die wir nicht haben, sie hat enorme Kampagnenmacht auf Social Media…

Sollte das BSW in den Bundestag einziehen, würden Sie dann auch mit der AfD stimmen oder deren Anträge unterstützen?

Wenn ein Antrag richtig ist, unterstützen wir ihn, egal von welcher Partei er kommt. Immer alles abzulehnen, hat die AfD doch nur stark gemacht. Man muss die AfD inhaltlich stellen, aber nicht hysterisch und unglaubwürdig attackieren. Viele Wähler der AfD wollen das gleiche, was auch das BSW will: Frieden, ein Ende der unkontrollierten Migration, bessere Bildung für ihre Kinder, eine Aufarbeitung der Corona-Zeit. Wenn das Bildungssystem so desolat ist, dass viele noch nicht mal mehr richtig lesen, schreiben und rechnen lernen, und dann wird nach Zuwanderung gerufen, weil uns Fachkräfte fehlen, da stimmt doch etwas nicht.