Köln – Das Mitleid ist fort. Keine neunzig Tage hat es überlebt. Als die russische Armee am 24. Februar die Ukraine überfiel, war Empathie noch die alles bestimmende Emotion. Eine ständige Begleiterin, die uns überwältigt hat, die die einen zum Erliegen brachte und die anderen in Aktionismus trieb. Doch proportional zur Dauer der russischen Angriffe scheint sie zu verfliegen. Werden wir also mit der Zeit immun gegen das Leid anderer oder anders gefragt: Welche Halbwertszeit hat Mitleid? Was bewirkt dieses zutiefst menschliche Gefühl? Und wozu hat die Natur es erfunden? Darüber haben wir mit dem Kölner Professor für Sozialpsychologie Detlef Fetchenhauer gesprochen.
Als Mitleid noch Hochkonjunktur hatte
Mitleid, das Mit-Fühlen und Mit-Erleiden kann, so viel steht fest, sehr hilfreich sein im Miteinander. Auch wenn es kein einziges Menschenleben rettet, wären Rücksicht, Respekt und Hilfsbereitschaft ohne ein gesundes Maß an Mitleid kaum möglich. Aber es hat auch düstere Seiten. Denn nicht immer, erklärt Detlef Fetchenhauer, führt Empathie auch dazu, wozu die Evolution sie erschaffen hat: zu positivem sozialen Handeln. Doch zunächst zu den guten Seiten des Mitleids und die Gründe, warum es lange Zeit hoch im Kurs stand.
Schon Jean-Jacques Rousseau oder Arthur Schopenhauer schätzen Empathie und Mitleid als „moralische Triebfeder“, die uns zu altruistischen, also uneigennützigen Handlungen bewege, Egoismus überwinde und auch die Grenze zwischen Vertrautem und Fremden. Nicht nur Philosophen, auch Politiker attestierten der Empathie ein positives Image. So sah Barak Obama darin „eine Tugend, die die Welt verändern kann, wenn wir nur in der Lage dazu sind, sie durch die Augen eines anderen zu betrachten“. Diese Fähigkeit ist immerhin so alt wie die Menschheit und dient, so Fetchenhauer, „evolutionspsychologisch dazu, schutzbedürftige Mitglieder einer Stammesgemeinschaft zu behüten“.
Die modernen Neurowissenschaften scheinen das zu bestätigen: Seit Beginn der 1990er Jahre weiß man, dass Spiegelneuronen in unserem Stirnlappen Impulse abfeuern, sobald wir mit leidenden Personen oder Tieren konfrontiert werden. Dann schalten sich unsere Gehirne quasi synchron, wir fühlen den Schmerz als sei er unserer und werden so zu sozialem Verhalten angeregt. Machen uns also allein die Spiegelneuronen zu empathischen, sozialen Wesen? Nicht ganz. „Denn sie bewirken hauptsächlich, dass wir beobachtete Gefühle – zunächst nur körperlich – nachempfinden und ein beobachtetes Verhalten intuitiv nachahmen können. Allerdings reagieren die Spiegelneuronen nur, wenn uns das Beobachtete selbst bekannt ist“, sagt Fetchenhauer.
Mitgefühl ist das bessere Mitleid
Empathie und Mitleid würden fälschlicherweise oft mit Mitgefühl verwechselt, sie bedeuteten aber zunächst nur: Ich fühle, was du fühlst. Dass man zum Wohl des oder der anderen denkt, handelt, diese Person unterstützen und ihr Leid beenden möchte, dafür sei aber Mitgefühl nötig. Fetchenhauer: „Mitgefühl ist eine weitaus komplexere Regung, die nicht allein emotional gesteuert ist, sondern bei der auch die rationale Abwägung eine Rolle spielt.“ Die Engländer haben dafür den Begriff „Compassion“ parat. Er beschreibt genau diese Fähigkeit, sich auch gedanklich in eine andere Person einfühlen zu können, selbst wenn sie sich in einer Situation befindet, die ganz anders ist als die eigene, und darauf sein Handeln ausrichtet.
Mitleid dagegen sei häufig eine passive Haltung, mit der wir uns zwar in die Situation einer anderen Person hineinversetzen, sie aber gleichzeitig bedauern, also herabsetzen, und froh sind, dass es uns besser geht: Zum Glück bin ich nicht in dieser Lage! Es geht uns dabei also mehr um uns selbst. Nicht umsonst wünschen sich viele Betroffene kein Mitleid, sondern Mitgefühl, keine Bewertung ihrer Lage sondern konkrete Hilfe. Die wiederum setzt voraus, dass man sich des Problems annimmt, statt es zu vermeiden, weil man das Leid des oder der anderen nicht ertragen kann. Fetchenhauer: „Bemitleideten signalisiert Mitleid, schwach und hilfsbedürftig zu sein und damit immer auch etwas über die Machtbeziehung zwischen Helfenden und Hilfeempfangenden aus.“
Die Crux mit der Ähnlichkeit: Mitleid kann ausgrenzen
„Im Gegensatz dazu spielt bei Mitleid die Ähnlichkeit und Sympathie zum Opfer eine kritische Rolle“, sagt Fetchenhauer und kommt damit auf eine der dunklen Seiten der Empathie zu sprechen. Dadurch, dass wir Mitleid seit jeher vor allem mit Menschen empfinden, die uns ähnlich sind, kann das zu mangelnder Hilfeleistung, zu Ausgrenzung und Rassismus führen.
Fetchenhauer: „Damit wäre auch erklärt, warum wir kollektiv Anteil an dem Schicksal der ukrainischen Bevölkerung genommen haben, gleichzeitig aber Menschen, die anderswo auf der Welt in Not sind, mit erschreckender Gleichgültigkeit begegnen. Warum wir für die Menschen aus der Ukraine mehr Solidarität, Mitleid und Hilfsbereitschaft mobilisieren, als wir es jemals für andere Geflüchtete getan haben. Und warum wir auch die von den Vereinten Nationen prognostizierten hunderttausenden Hungertoten nicht auf dem Schirm haben, die der Krieg allein in Ostafrika aufgrund ausbleibender Getreide-Lieferungen in wenigen Monaten verursachen wird.“
Je weniger Opfer, desto größer das Mitleid
Hinzukommt ein weiterer negativer Aspekt des Mitleids: „Es fällt nämlich stärker aus, wenn es sich um ein konkretes Opfer und nicht eine große Gruppe von Hilfsbedürftigen handelt“, sagt Fetchenhauer und erzählt von einem Versuch, bei dem eine Teilnehmergruppe eine Liste von zehn Kindern erhielt, die eine Nierentransplantation benötigen – mit Angabe des Alters, des Krankheitsverlaufs und der zeitlichen Überlebenschancen. Die Teilnehmenden sollten diese Kinder auf einer Skala von eins bis zehn entsprechend der Dringlichkeit der Transplantation einordnen. Einer zweiten Gruppe zeigte man die gleiche Liste, fügte aber bei einem Kind, das relativ gute Prognosen hatte, ein Foto von der Kleinen hinzu, mit der dringlichen Bitte einer Spende: Meine Mutter würde meinen Tod nicht verkraften. Die Teilnehmer setzten dieses Kind auf Platz drei statt neun wie die anderen Probanden. Fetchenhauer: „Das zeigt, dass Mitleid mit einer Person dazu führen kann, dass wir handlungsleitende Prinzipien, wie das Wohl und Überleben möglichst vieler Menschen, aus den Augen verlieren."
Wenn Mitleid zu Hass und Gewalt führt
Leider habe Mitleid laut Fetchenhauer auch das Zeug dazu, antisoziales Verhalten zu stimulieren. „Wenn es etwa um das Prinzip Groß gegen Klein, Goliath gegen David oder eben Russland gegen die Ukraine geht, dann löst das Mitleid mit den vermeintlich Schwächeren häufig automatisch Verachtung für den vermeintlich Stärkeren aus, kann in Aggression, gar Mord und Totschlag münden.“ Einem ähnlichem Prinzip folge der Impuls, russische Mitbürgerinnen und Mitbürger zu beschimpfen, zu boykottieren und russische Komponisten aus den Programmen sämtlicher Symphonieorchester zu streichen.
Ist Mitleid egoistisch?
Mitleid läuft also nicht immer darauf hinaus, dass wir zum Wohl anderer denken und handeln. Was schon Friedrich Nietzsche dazu veranlasste, Mitleid als eine „unnütze, wirkungslose Emotion“ abzutun. Der US-amerikanische Psychologe Paul Bloom hat gleich ein ganzes Buch gegen das umstrittene Gefühl geschrieben („Against Empathie“). Mitleid, sagt er, sei egoistische Bedürfnisbefriedigung, die vor allem dazu diene, das Leiden des anderen zu beenden, damit man selber nicht mehr leiden muss.
Ein derart negatives Image attestiert Fetchenhauer dem Mitleid zwar nicht, bezeichnet es eher als wertvolle Eigenschaft, die vor allem im nahen sozialen Umfeld zu positivem sozialem Handeln führen kann. Was aber die (politische) Kompetenz des Mitleids betrifft, eine bessere Gesellschaft zu ermöglichen, da hält es Fetchenhauer lieber mit Paul Bloom: Wer moralisch gut und richtig handeln, anderen gezielte Hilfe anbieten möchte, sollte sich statt von Gefühlen lieber von der Vernunft leiten lassen. Auch wenn das in öffentlichen Debatten dieser Tage etwa um das Pro und Contra von Waffenlieferungen gerne als technokratisch oder herzlos abgetan würde.
Die kurze Halbwertszeit des Mitleids
„Schön wäre doch, wenn wir die Empathie vor dem Hintergrund des Krieges zum Anlass nähmen, unser Handeln und unsere Hilfeleistungen rational, unter Abwägung von Alternativen, von Neben- und Fernwirkungen zu überprüfen und mitdenkendes Mitgefühl zu praktizieren – statt uns vom Mitleid für Einzelne und vom Gefühl überwältigen zu lassen“, sagt Fetchenhauer.
Dann klappt’s vielleicht auch mit der verlängerten Halbwertszeit des Mitleids. Dem nämlich attestiert Fetchenhauer keine lange Dauer: „Wir denken und fühlen, um damit unser Verhalten und Handeln zu steuern. Wenn eine Person nach Monaten immer noch leidet, werde ich für sie nicht das gleiche Maß an Mitleid aufbringen, wie zu Beginn der Notlage, weil meine Hilfeleistung ohne den gewünschten Effekt geblieben ist.“