Köln – Arme, Beine, Füße und Hände bleiben still. Die Muskeln gehorchen nicht mehr auf die Bewegungsreize, die das Gehirn aussendet. So ergeht es Laumee Heike Fries, als sie vor knapp zwei Jahren aus dem künstlichen Koma erwacht und ihren Körper nicht mehr bewegen kann. Nur eine der Folgen, die die heute 45-Jährige aus Windeck durch eine Sepsis, also eine Blutvergiftung, erlitt.
„Ich hatte null Muskelkraft und konnte so gut wie nichts mehr“, beschreibt die Künstlerin ihren damaligen Zustand. Auch das Sprechen fällt ihr zu diesem Zeitpunkt schwer, sie kann sich nicht konzentrieren, ihre kognitiven Fähigkeiten sind eingeschränkt. Ihr fehlt es an Energie. „Ich hatte sogar Halluzinationen. Mein Gehirn konnte das alles nicht richtig verarbeiten – ich habe völlig wirre Szenarien für real gehalten.“ Bald ein Jahr dauert es, bis Fries wieder einigermaßen fit ist – sie sich wieder alleine anziehen, laufen oder malen kann. Sie wieder ihre Energie zurück hat. Doch es bleibt ein harter Weg.
Sepsis ist in Deutschland die dritthäufigste Todesursache
Sepsis ist in Deutschland die dritthäufigste Todesursache. Rund 75.000 Menschen sterben jährlich nach Angaben der Sepsis-Stiftung in der Bundesrepublik an der Krankheit. An die 20.000 Fälle gelten als vermeidbar. Nahezu jedes Organsystem ist bei einer Sepsis betroffen; das macht sie so gefährlich, erklärt Dr. Fabian Dusse, Oberarzt für Intensivmedizin an der Uniklinik Köln. Eine Sepsis kann durch Krankheitserreger – meist Bakterien – bei einer Infektion wie zum Beispiel einer Lungenentzündung ausgelöst werden.
„Die Regelmechanismen des Immunsystems geraten bei einer Sepsis außer Kontrolle. Normalerweise wehrt die körpereigene Immunabwehr Krankheitserreger ab. Gleichzeitig reguliert der Körper die Abwehrreaktion auf den Erreger herunter. Das System befindet sich also in einem Gleichgewicht. Bei der Sepsis ist es gestört.“ Das Immunsystem kann bei einer Blutvergiftung auf zwei Arten reagieren: Es reagiert überschießend und greift nicht nur Krankheitserreger, sondern auch körpereigene Zellen und Organe an. Es können aber auch die hemmenden Faktoren im Immunsystem überwiegen – Bakterien, Pilze oder Viren, die sich dann quasi ungehindert im Körper ausbreiten können.
Weitere Informationen für Betroffene
Brauchen Sepsis-Überlebende Rat oder Hilfe können sie sich an die Deutsche Sepsis Hilfe wenden. Auf der Homepage gibt es zahlreiche Informationen zur Krankheit. Betroffene können sich auch telefonisch beraten lassen.
Die Sepsis-Stiftung setzt sich für die weitere Erforschung der Krankheit ein und will sie stärker in das Bewusstsein rücken. Betroffene können sich auch hier bei Fragen rund um die Krankheit beraten lassen. Auf der Webseite werden Folgen einer Sepsis erklärt.
„Ich fühlte mich sehr schlapp und dachte, es sei eine Grippe“
An eine Blutvergiftung hat Laumee Heike Fries nicht gedacht als sie krank wird. „Ich hatte eine dicke Nase, fühlte mich sehr schlapp – ich dachte, dass ich eine Grippe hätte und es mit etwas Tee besser werden würde.“ Statt einer Besserung wird es schlechter: „Ich sah immer schlimmer aus und fühlte mich furchtbar.“ Ihre Hausärztin schickt sie sofort ins Krankenhaus. Wegen schlechter Blutwerte bekommt sie dort Blutkonserven – was ihr fehlt, wissen die Ärzte zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wegen Darmproblemen wird sie in eine Klinik in Köln verlegt. Dort überschlagen sich die Ereignisse: Fries‘ Darm platzt. Ihr wird in einer Notoperation ein künstlicher Darmausgang gelegt. Sie erleidet einen schweren septischen Schock. Wird für mehrere Tage in ein künstliches Koma versetzt.
„Die ausgelöste Immunreaktion und die Krankheitserreger sorgen dafür, dass sich die Blutgefäße weit stellen. Die Folgen: ein niedriger Blutdruck und die Flüssigkeit versackt im eigenen Körper. Ist dieser Zustand stark ausgeprägt – handelt es sich um einen septischen Schock, bei dem der Blutkreislauf schwer beeinträchtigt ist“, erklärt Fabian Dusse. Neben einem niedrigen Blutdruck können noch zahlreiche weitere Symptome auf eine Sepsis hinweisen. Verwirrtheit, Orientierungslosigkeit und Teilnahmslosigkeit sind Frühwarnzeichen. „Viele Patienten entwickeln Atemprobleme, weil der Körper versucht, genügend Sauerstoff aufzunehmen.“ Kommen diese Symptome zu einem Krankheitsgefühl mit Fieber und Schüttelfrost hinzu, sollten Patienten hellhörig werden. Denn bei einer Sepsis zähle jede Minute – die Krankheit ist sehr zeitkritisch. „Die effektivste Therapiemöglichkeit ist ein Antibiotikum.“
Schwere Diagnose durch unspezifische Symptome
Doch nicht immer wird die Krankheit gleich erkannt, die unspezifischen Symptome erschweren eine Diagnose, sagt Dusse. Der Vorstandsvorsitzende der Sepsis-Stiftung Professor Konrad Reinhart erklärt, dass niedergelassene Ärzte und medizinisches Personal im Rettungsdienst nicht systematisch zu der lebensbedrohlichen Krankheit und ihren Frühsymptomen aufgeklärt werden. „In Kliniken sind fachübergreifende Kommunikationsprozesse ungenügend entwickelt und es fehlen innerklinische, fachübergreifende Notfallteams.“
Der Oberarzt Fabian Dusse schildert, dass in der Medizin in der Vergangenheit viele Erkenntnisse über Sepsis hinzugekommen sind. Daraus sind Leitlinien für die Diagnose und Behandlung entstanden. „Es gibt aber noch viele offene Fragen, die weiter erforscht werden müssen.“
Sepsis kann gravierende Folgen haben
Durch die schwere Infektion, leiden viele Patienten an Folgeschäden: „Organische Folgen können eine langanhaltende Nierenfunktionsstörung oder Atemnot sein.“ Laut der Sepsis Alliance leiden 50 Prozent der Sepsis-Überlebenden an einem Post-Sepsis-Syndrom. Dabei kann es zu folgenden Symptomen kommen: Depressionen, Albträume, Halluzinationen oder Ängste. „Selbst wenn sich ein Patient körperlich von einer Sepsis erholt, ist die Krankheit und die Behandlung nicht nur physisch, sondern auch psychisch belastend“, erklärt Dusse. Bei einer langen intensivmedizinischen Behandlung kann das sogenannte Intensive-Care-Unit-Syndrom auftreten, ein Begriff für körperliche, kognitive und psychische Folgen der intensivmedizinischen Therapie. „Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden, bekommen zwar Medikamente, die Schmerzen stillen und ihnen die Angst nehmen, es kann aber trotzdem sein, dass Patienten belastende Erlebnisse verarbeiten müssen.“ Bei einigen Menschen kehre ein Teil der Erinnerung nicht zurück, was belastend sein kann, sagt Fabian Dusse.
Auch mit ihren Bewegungsproblemen ist Laumee Heike Fries kein Einzelfall. „Dass das Nervensystem bei einer Sepsis angegriffen wird, ist typisch“, schildert der Kölner Intensivmediziner. Es kann zu einer sogenannten Critical-Illness-Polyneuropathie kommen: „Die Nervenleitungen können angegriffen werden, was dazu führt, dass einem die Muskeln nicht mehr so gehorchen. Neben der Einschränkungen durch die Bettlägerigkeit ist auch die Ansteuerung der Nerven gestört.“
Gesundheitssystem mit der Krankheit überfordert?
Vier Wochen liegt Fries auf der Intensivstation, bekommt zwei Lungenentzündungen: „Ich hatte das Gefühl, dass den Ärzten die Folgen einer Sepsis nicht richtig bekannt sind.“ Dass sie sich nicht mehr bewegen kann, habe man ihr nicht so richtig abgekauft. Sie fühlt sich mit den weitreichenden Folgen der Sepsis alleine gelassen. „Ich habe, als ich wieder zu Hause war, bei der Sepsis-Gesellschaft angerufen und mich beraten lassen. Denn ich wollte nicht länger das Gefühl haben, dass ich mir Sachen und Symptome einbilde, sondern auch eine Ärztin oder ein Arzt mir bestätigt, dass es die Symptome gibt.“
Fachlich habe Fries sich im Krankenhaus gut aufgehoben gefühlt, doch die Menschlichkeit sei zu kurz gekommen. „Ich denke, dass unser Gesundheitssystem zu sehr auf Effizienz setzt. Ich würde mir wünschen, dass es wieder humaner wird. Das ganze System ist für jemanden mit solch unklaren Symptomen schwierig – aber auch für Ärzte und Pflegende.“ Anträge für Rehabilitationsmaßnahmen wurden abgelehnt – so schildert es Fries. In viel Eigenregie mit ihrem Mann und ihrer Mutter lernt sie wieder zu gehen.
Laumee Heike Fries Geschichte scheint kein Einzelschicksal zu sein: „Sepsis-Folgen sind sozialrechtlich nicht anerkannt und fehlen in den Leistungskatalogen von Krankenkassen und Rentenversicherungen, was für Betroffene und Angehörige oft zu langen Kämpfen um ihre Ansprüche führt“, sagt Konrad Reinhart. Ein weiteres Problem: Außer der Klinik Bavaria in Kreischa gebe es deutschlandweit nur wenige Reha-Kliniken, die auf die Rehabilitation von Sepsis-Überlebenden zugeschnitten seien.
Eine Rehabilitationsmaßnahme muss vom behandelten Arzt beantragt werden, erklärt der Kölner Allgemeinmediziner Frieder Götz Hutterer. „Bei sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmern entscheidet die Rentenversicherung über die Anträge und finanziert die Maßnahme. Wer nicht arbeitet – zum Beispiel Hausfrauen und Kinder – und familienversichert ist, bekommt eine Reha-Maßnahme durch die gesetzliche Krankenkasse finanziert.“ Wird eine Rehabilitation nicht genehmigt, muss dies immer begründet werden. „Patienten sollten in solchen Fällen mit dem behandelten Arzt Rücksprache halten und auch mit einem Anwalt besprechen, ob ein Widerspruch sinnvoll ist“, rät der Mediziner.
Doch die Kraft und das Wissen sich für Rehabilitationsmaßnahmen oder Therapien einzusetzen, haben Betroffene nicht, wenn sie die Hilfe so dringend bräuchten, sagt Fries. Heute geht es ihr wieder gut. „Wenn ich mich bücke oder mich hocke, muss ich noch aufpassen, weil mir schwindelig wird. Sonst bin ich aber kaum noch eingeschränkt und bin froh, dass mein künstlicher Darmausgang wieder zurückgelegt worden ist.“ Fries wünscht sich mehr Aufklärung und bessere Therapieangebote für Sepsis-Überlebende.