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Kölner Professor für Orthopädie„Wenn man mit Rückenschmerzen zum Arzt geht, wird es häufig schlimmer“

Lesezeit 10 Minuten
Peer Eysel sitzt vor einem Bildschirm mit Röntgenaufnahmen von einer Wirbelsäuse. 

Peer Eysel ist als Klinikdirektor der Orthopädie an der Uniklinik Köln Spezialist für Rückenleiden.

Peer Eysel, Direktor der Orthopädie an der Uniklinik Köln, erklärt, warum Rückenschmerzen bei uns in Deutschland oft falsch behandelt werden.

Herr Eysel, mehr als 60 Prozent der Deutschen leiden unter Rücken- und Nackenschmerzen. Haben sich die Zahlen durch das Arbeiten im Homeoffice noch verschlechtert?

Ja, unserer Beobachtung nach war Corona ein regelrechter Push. Es gibt aber nicht nur mehr Patienten mit Rückenschmerzen. Auch die Zahl derer, die sich viel stärker als früher selbst beobachten und dadurch Probleme im Rücken stärker spüren, ist gestiegen. Die Ursache für diese Schmerzen sind allerdings fast immer unspezifisch.

Wie unterscheiden sich spezifische und unspezifische Rückenschmerzen?

Einen spezifischen Rückenschmerz kann ich in bildgebenden Verfahren wie dem MRT sehen, einen großen Bandscheiben-Vorfall zum Beispiel. Sehr selten kann auch ein Tumor hinter den Schmerzen stecken, oder eine Rheuma-Erkrankung. Unspezifische Rückenschmerzen werden dagegen meist durch Fehlhaltungen, falsches Heben, zu viel Gewicht oder zu wenig Muskulatur verursacht. Und das sind die allermeisten.

Mit welchen Problemen kommen die Patienten am häufigsten zu Ihnen?

Zum einen Patienten, die seit Jahren Rückenschmerzen haben, vergeblich versucht haben, sich selbst zu behandeln und irgendwann einen hohen Leidensdruck haben. Die zweite Gruppe ist in den Notaufnahmen sehr stark vertreten: Der akute Hexenschuss ist unheimlich schmerzhaft. Aber auch der ist fast immer unspezifisch.

Bei Hitze: Klimaanlage auf volle Power kann zu verkrampfter Halsmuskulatur führen

Wie kommt es zu einem Hexenschuss?

Die Wirbelsäule ist ein sehr flexibles Konstrukt, die durch die Muskulatur rechts und links aufrechterhalten wird. Diese Muskulatur kann man im Gegensatz zum Bizeps-Muskel nicht willkürlich ansteuern, sie an- oder entspannen. Und sie ist ungemein vielfältig: Von oben bis unten gibt es viele kleine Muskeln, die von vielen unterschiedlichen Nerven versorgt werden. Wer bei Hitze die Klimaanlage auf volle Power dreht, dem kann es passieren, dass er plötzlich seinen Hals nicht mehr bewegen kann. Die Ursache dafür ist ein Krampf an der Muskulatur. Zu diesen antagonistischen Muskel-Aktionen kann es aus unterschiedlichen Gründen kommen.

Antagonistisch heißt: Die Muskeln arbeiten gegeneinander?

Genau. Die dann entstehende Blockierung kann sehr schmerzhaft sein. Sie hat unter Umständen auch Auswirkungen auf andere Teile der Wirbelsäule, wenn ich etwa eine Vermeidungshaltung einnehme. Das ist ein typischer Mechanismus, der besonders häufig passiert, wenn die Muskulatur nicht gut trainiert ist.

Professor Peer Eysel hält eine Wirbelsäulen-Nachbildung in seinen Händen.

Peer Eysel ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Plastisch-Ästhetische Chirurgie der Uniklinik Köln.

Wie kann man einem Hexenschuss vorbeugen?

Bewegung ist immer gut. Und wenig Stress. Man sollte sich auch angewöhnen, bei der Arbeit im Stehen zu telefonieren oder die Ordner etwas weiter wegzustellen, dass man zwischendurch mal Bewegung hat. Man sollte den Sitz immer wieder verstellen oder den Computer mal auf einen Schuhkarton stellen, um in der Höhe zu variieren. Das wären für mich vorbeugende Mittel, wenn man Schreibtisch-Täter ist.

Gang zum Arzt kann Rückenschmerzen verschlimmern

Welche Rolle spielt die Psyche bei Rückenschmerzen?

Eine sehr große. Zunächst einmal ist wichtig: Rückenschmerzen sind normal, jeder hat die irgendwann mal. Wenn jemand unspezifische Rückenschmerzen ohne manifeste Ursache bekommt, sich ins Bett legt und grübelt, wird er viel mehr auf seinen Rückenschmerz fokussieren als jemand, der über einem spannenden Fußballspiel seinen Rückenschmerz vergisst. Wenn man dann mit Rückenschmerzen zum Arzt geht, wird es häufig noch schlimmer.

Inwiefern?

Der Arzt hat wenig Zeit und wird als Erstes versuchen, eine Ursache für den Rückenschmerz zu finden, zum Beispiel durch ein Röntgenbild. Irgendetwas wird er mit Sicherheit finden, weil sich der Rücken ab einem gewissen Alter verändert. Auch die folgende Unterhaltung mit dem Patienten geht dann schnell: „Ich sehe, Ihre Bandscheibe ist verändert oder Ihr Knochen ist irgendwie schief.“ Bei einigen Patienten kommt es dann zur Stigmatisierung.

Was bedeutet das?

Sie werden krank, weil sie eine Diagnose haben. Außerdem wird ihr Rückenschmerz oft noch belohnt. Der Patient bekommt Krankengymnastik, Physiotherapie oder Massagen verordnet. Auch Krankmeldung oder Schonung ist eine Form der Belohnung. Wenn Menschen in einer Lebensperiode sind, in der vielleicht die Ehe nicht mehr funktioniert oder Freundschaften nicht mehr da sind, kommt es nun zu einem psychologischen Phänomen: Die Zuwendung unterstützt den Schmerz fantastisch. Es kommt dann häufig zur Chronifizierung von Rückenschmerzen, der häufigsten Ursache für Arztbesuche, Krankschreibungen und Frühverrentung.

Rückenschmerzen: Kritik am Gesundheitssystem

Unser Gesundheitssystem verschlimmert die Situation also häufig noch? Das ist eine harte Kritik an Ihrer Zunft.

Ich bin Teil dieses Systems, weil ich auch oft keine Zeit habe. Aber die Kritik ist berechtigt. In Skandinavien weisen Ärzte bei unspezifischem Rückenschmerz viel öfter auf die Harmlosigkeit des Leidens hin, raten dazu, sich viel zu bewegen und wenig zu schonen, ab und an unterstützt von einem Schmerzmittel. Studien haben verglichen, in welchem System die Rückenschmerzen der Patienten länger andauern. Dreimal dürfen Sie raten: bei uns.

Mal ganz grundsätzlich: Ab wann sollte man mit Rücken- oder Nackenschmerzen zum Arzt?

Wer mehr als sechs Wochen Rücken- oder Nackenschmerzen hat, sollte das diagnostizieren lassen. In aller Regel ist es nichts Schlimmes, sondern bedarf vielleicht einer Lebensumstellung. Aber es gibt ganz wenige Fälle, wo etwas dahintersteckt, das man gezielt beeinflussen kann, manchmal sogar mit einer Operation. Es kann in seltensten Fällen auch mal ein Tumor sein oder eine Entzündung an der Wirbelsäule. Bei hartnäckigen Nackenschmerzen kann es auch mal sinnvoll sein, zu einem guten Physiotherapeuten zu gehen. Entspannung spielt ebenfalls eine wichtige Rolle.

Warum?

Wer einen sehr stressigen Beruf hat, produziert viel Stresshormone. Beim Fokussieren auf den Computer verspannt man da leicht seine Halswirbelsäule und die wird nach der Arbeit deutlich wehtun. Häufig wird gesagt: abends Sport machen. Im Fitnessstudio kommt die Muskulatur aber nicht zur Ruhe. Oft wäre es viel besser, sich ein heißes Bad nehmen, sich flach hinlegen, ein Kirschkern-Kissen benutzen, ein autogenes Training machen. Die Muskulatur muss auch mal zur Ruhe kommen.

Zusammenhang zwischen Kopfschmerzen und Nackenverspannungen

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kopfschmerzen mit Nackenverspannungen?

Ja. Verspannungen im Nackenbereich strahlen sehr häufig in den Hinterkopf aus, weil die Muskulatur unserer Wirbelsäule am Kopf ansetzt. Das ist ein typisches Phänomen.

Woher kommen Verspannungen?

Meistens von Stress. Denn Stress bedeutet von der Evolution her, dass ich meinen Körper auf Angriff, auf Reaktionsschnelligkeit stelle. In der Stresssituation kommt es zu einer maximalen Anspannung der Muskulatur. Da kann es an der Wirbelsäule mit ihren vielen kleinen Muskeln zu Verspannungen kommen.

Welche Folgen hat es für unseren Rücken, dass wir zunehmend häufig auf unser Smartphone gucken?

Das ist ein großes Problem, besonders bei Kindern und Jugendlichen. Es gibt dafür schon einen Begriff: Smartphone Neck. Auch, dass Jugendliche in ihrer Freizeit bis in die Nacht stundenlang am Computer sitzen und nichts anderes machen, als in irgendeinem blöden Sessel zu hängen, spielt eine große Rolle in allen Bereichen des Skelett-Systems, aber auch bei der Wirbelsäule.

Diese Tätigkeit empfiehlt Orthopäde Eysel bei Rückenschmerzen

Welche Bewegung ist besonders empfehlenswert für den Rücken?

Für alle Abschnitte der Wirbelsäule ist Fahrradfahren super. Das trainiert die Koordination, die Wirbelsäule und die Rücken-Muskulatur, ohne sie zu stark zu belasten. Und es trainiert auch die Bauchmuskulatur. Die ist nämlich auch wichtig für den Rücken.

Ist Yoga so gut für den Rücken, wie es behauptet wird?

Wer Spaß daran hat, sollte das gerne tun. Yoga dehnt die Muskulatur und hält die Gelenke beweglich. Mann sollte aber altersgemäßes Yoga machen. Senioren, deren Rücken schon etwas eingesteift sind, sollten sich nicht in zu ungewöhnliche Positionen begeben.

Was halten Sie von Liebscher Bracht?

Ich habe durch diese Methode bisher keine negativen Auswirkungen gesehen. Darum würde ich sie empfehlen, vor allen Dingen dann, wenn man sich anfangs anleiten lässt.

Diese Sportarten können dem Rücken schaden

Gibt es Sportarten, die für den Rücken schädlich sind?

Es gibt ganz wenige Sportarten, die unmittelbar schlecht sind für die Wirbelsäule; vor allem Leistungs-Sportarten sind problematisch: Bodenturnen oder Leistungstennis- und- Fußball. Das geht auf die Gelenke. Beim Bodenturnen gibt es richtiggehende Veränderungen, die man im Röntgenbild sehen kann.

Was raten Sie Menschen mit Schreibtisch-Job, um den Rücken zu schonen?

Mehr für den Ausgleich tun. Gymnastik oder Spaziergang zwischendurch. Das kann man im Homeoffice noch viel besser als im Büro. Mit allen vermeintlichen Hilfsmitteln sollte man sehr vorsichtig sein. Es gibt eine Riesen-Industrie, die sich um das Thema Rückenschmerz rankt: Stühle, Matratzen, Autositze, teure Schreibtische. Es gibt keinen Beleg dafür, dass die helfen.

Was sagen Sie zu Sitzbällen?

Kurzzeitig kann man darauf sitzen, langfristig wird das aber zu einer Überlastung der Muskulatur führen.

Härtere Matratze bei Rückenschmerzen

Wie wichtig sind gute Matratzen?

Grundsätzlich empfehle ich immer etwas härtere Matratzen. Auf einer harten Unterlage bewegt man sich mehr nachts und ist nicht gefangen in dieser Position einer weichen Matratze. Aber ich halte wenig von einer teuren Spezialmatratze.

Hilft Tigerbalsam gegen Verspannungen?

Alles, was man von außen auf die Wirbelsäule oder Muskulatur bringt, hat den Sinn, dass sie vermehrt durchblutet wird. Wärme ist gut – entweder durch heißes Wasser, Massagen, Fangopackungen oder auch Tigerbalsam.

Sie sind Direktor für Orthopädie und Unfallchirurgie an der Uniklinik und sind auch in der Unfallchirurgie aktiv. Welche Verletzungen nehmen zu?

Wir haben jahreszeitliche Schwankungen. Jetzt gerade die Motorradfahrer, im Herbst die Heimwerker, die auf Bäume klettern und am Haus irgendwas renovieren. Es wird immer mehr Fahrrad gefahren, da nehmen Stürze mit heftigen Folgen zu. Wir haben sicher ein bis zweimal die Woche schwere Verletzungen an der Halswirbelsäule und an der Lendenwirbelsäule. Ich rate auf jeden Fall dazu, einen Fahrradhelm tragen. Schädelhirntrauma werden signifikant reduziert.

Haben Sie wegen E-Scootern mehr zu tun?

Absolut. Das Wochenende ist immer der Höhepunkt. Samstagabends, nachts oder natürlich auch an Feiertagen wie Karneval. Eine ganz wichtige Rolle beim Escooter-Fahren spielt dieses abrupte Stoppen, wenn das kleine Rad an der Bordsteinkante hängen bleibt. Der Fahrer überschlägt sich, geht frontal nach vorne über den Lenker. Das ist ganz schwierig für die Halswirbelsäule. Wir haben mehrere ernsthafte Verletzungen bis hin zur Querschnittslähmung behandelt nach Stürzen.

Sind Sie für ein Verbot?

Ich bin für Vorsicht. Das Leben ist Risiko.

2020 haben Sie den FC Spieler Rafael Cichos wegen schweren Verletzungen an der Halswirbelsäule behandelt. Was war das für ein Gefühl, wenn halb Köln darauf schaut, wie diese Behandlung läuft?

Da habe ich in dem Moment eigentlich gar nicht dran gedacht. Er ist ein sehr sympathischer Spieler und sehr sympathischer Patient. Ich behandele Leistungssportler aus allen Regionen, weil ich einen Wirbelsäulen-Schwerpunkt habe. Das Besondere an diesen Patienten ist, dass sie eine sehr hohe Motivation haben, ganz schnell wieder fit zu werden. Das macht sie zu angenehmen Patienten, die man nicht motivieren, sondern eher bremsen muss.

Welcher Spitzensport ist besonders anfällig für Verletzungen?

Bodenturnen. Ich habe aber auch schon einen sehr bekannten Jockey behandelt. Der Boxsport, manchmal kommen auch Menschen vom Nürburgring zu uns.

Wen fragen Sie nach einem Autogramm?

Die FC-Spieler. Für meine Söhne, die sind totale FC-Fans. Und dann gibt es manchmal Trikots und Autogramme.

Welche drei Sätze können Sie nicht mehr hören, wenn es um den Rücken geht?

Jeder Rückenschmerz ist ein Bandscheibenvorfall. Das ist vollkommener Quatsch. Wenn ich Rückenschmerzen habe, muss ich andauernd Krankengymnastik machen und ins Fitnessstudio gehen. Das ist auch Blödsinn. Rückenschmerzen bedeutet, dass ich mich in zehn Jahren kaum noch bewegen kann, weil sie immer schlimmer werden. Auch das ist vollkommener Quatsch.

Erleben Sie auch in Ihrer Praxis, dass die Bagatellfälle zunehmen?

Ja. Rückenschmerzen möchte ich davon ausdrücklich ausnehmen. Wenn man einen heftigen Hexenschuss hat und völlig unbedarft ist, tut das tierisch weh und man bekommt Angst. Aber gerade von Sonntag auf Montag kommt es vor, dass Leute in die Notaufnahme kommen und es wirklich bringen, offen zu erzählen, dass sie jetzt beim Arzt drei Stunden in der Praxis gesessen hätten und darum lieber in die Notaufnahme kommen. Da können die Kollegen schon mal sehr enttäuscht und böse sein.

Der kurioseste Patient mit Rückenschmerzen, den sie jemals hatten?

Ich hatte eine Patientin, die der Meinung war, sie müsse wegen ihres Rückens ständig auf einem großen aufblasbaren Ball sitzen. Wenn sie zu mir kam, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Zug, hat sie den ständig mitgeführt und alles versperrt. Das fand ich schon ziemlich kurios.


Das komplette Interview mit dem Kölner Orthopäden Peer Eysel können Sie sich auch in unserem Podcast „Talk mit K“ anhören.