„Man blutet langsam aus“Drei Menschen berichten über ihre Erfahrungen mit Einsamkeit
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Köln – Treffpunkt Parkbank am Rautenstrauch-Kanal in Köln. Enten quaken, in einer Thermoskanne wartet schwarzer Kaffee, der Zucker ist in Tütchen abgepackt. Zwischen uns liegen eineinhalb Meter Abstand. Distanz wahren, Nähe vermeiden, ein Nicken statt des üblichen Händeschüttelns zur Begrüßung – Interviews in Zeiten der Pandemie. Die Versuchsanordnung passt zum Thema. Wir wollen über Einsamkeit reden, diese „wahrgenommene Distanz zwischen gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen“, wie es die Soziologen nennen. Britta Struß nennt es anders. „Es ist die Erkenntnis, komplett allein zu sein.“ Selbst dann, wenn ringsum das Leben tobt.
Britta Struß ist Zugbegleiterin. Zweimal geschieden. Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Nach einer kurzen Beziehung seit einigen Monaten wieder Single. Keine, die aussieht, als mangele es ihr an Kontakten. Und doch ist da in ihrem Inneren dieses Gefühl von absoluter Verlorenheit, das ihr bislang kein Partner, kein Freund, keine Freundin, kein Nachbar und kein Kollege nehmen konnte. „Einsamkeit ist schwer zu definieren, und sie ist noch schwerer zu ertragen.“
Die 50-Jährige teilt dieses undefinierbare Etwas mit etwa jedem zehnten Menschen in Deutschland, mit Männern, Frauen, Alten und Jungen. Selbst manches Kind kennt bereits die Löcher in der Seele, die von Isolation, dem Gefühl von Ausgeschlossensein und quälender Ich-Einkehr erzählen. Die auf Dauer krank machen und sogar das Leben verkürzen können. Und die nichts, absolut nichts mit selbstgewähltem Alleinsein zu tun haben. Innere Einsamkeit kann misstrauisch machen, auch das ergaben Studien. Sie kann Angst vor neuen sozialen Kontakten schüren – und die Betroffenen damit noch weiter in die Isolation treiben.
Schätzungsweise 40 Millionen Europäerinnen und Europäern mangelt es mittlerweile an Menschen, denen sie sich seelenverwandt und eng verbunden fühlen. In den USA gaben bei Umfragen sogar drei von fünf Interviewten an, unter Einsamkeit zu leiden. Die Dunkelziffer dürfte noch weitaus höher liegen, denn viele Betroffene scheuen sich, über ihre innere Bindungslosigkeit zu reden. Einsamkeit sei der Gigatrend unserer Zeit, bringt die Publizistin und CDU-Politikerin Diana Kinnert in ihrem gerade erschienenen Buch „Die neue Einsamkeit“ das globale Problem auf den Punkt. Und ist damit d’accord mit Papst Franziskus, der kürzlich von einer „Geißel des 21. Jahrhunderts“ sprach.
Einsamkeit ist ein globaler Gigatrend
Neu ist das Phänomen der sozialen Einsamkeit nicht. Allerdings: Es gewinnt, zumal in Zeiten der Pandemie, mehr und mehr an Aufmerksamkeit. „Einsam bist du sehr alleine – und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit“, philosophierte schon 1947 Erich Kästner in seinem Gedicht „Kleines Solo“: „Aus der Wanduhr tropft die Zeit. Stehst am Fenster. Starrst auf Steine. Träumst von Liebe. Glaubst an keine. Du kennst das Leben. Weißt Bescheid.“
In Japan haben clevere Startup-Gründer aus dem Manko längst ein Geschäft gemacht: Dort boomen seit einigen Jahren „Rent-a-friend“-Agenturen, die einsamen Herzen gefakte Bezugspersonen für jede Gelegenheit vermieten: falsche Verlobte, angebliche Freunde, gut bezahlte Begleiter, die bei Beerdigungen trauernde Familienmitglieder mimen. In Großbritannien und Deutschland hat die Politik auf den globalen „Gigatrend“ reagiert. 2018 hob die damalige britische Regierungschefin Theresa May in London das weltweit erste „Einsamkeitsministerium“ aus der Taufe und reagierte damit auf eine „traurige Realität des modernen Lebens“: rund neun Millionen Britinnen und Briten, die sich manchmal oder sogar immer einsam und verloren fühlen.
Alleinsein trotz vieler Kontakte
Hierzulande schaffte es das hochaktuelle Thema immerhin in den Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. „Angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalen Gesellschaft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, der Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen“, heißt es darin.
Britta Struß schockte kürzlich eine Krankenschwester, als die sie vor einer Operation nach einer Kontaktperson fragte. „Sie wollte wissen, wen sie anrufen kann, falls es bei dem Eingriff Komplikationen geben sollte. Niemanden, habe ich gesagt. Ich wusste einfach niemanden.“ An einem Mangel an Kontakten liege das nicht. Sie habe kein Problem, Menschen kennenzulernen. „Ich habe eine Handvoll Freunde, die ich jederzeit fragen kann, ob sie mich im Notfall irgendwo hinfahren oder ob wir zusammen etwas kochen.“ Nur: „Ich tue das nicht. Ich habe immer das Gefühl, nicht wert zu sein, dass man sich um mich kümmert, und die anderen zu belästigen. Als ob sie etwas für mich tun müssten, was sie vielleicht gar nicht wollen.“
Britta Struß vermutet den Schlüssel zu ihrer emotionalen Not in ihrer Kindheit. Vor allem die Beziehung zu ihrer Mutter sei bis heute problematisch. „Ich wurde nie unterstützt, nie gelobt, nie wertgeschätzt, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Immer hieß es: Das kannst du nicht. Davon hast du keine Ahnung, geh in dein Zimmer. Eigentlich habe ich von beiden Elternteilen nur Ablehnung erfahren.“ Das bewirke etwas im Kopf, sagt sie. „Mir fehlt das Urvertrauen in andere Menschen. Ich rede schlecht über mich selber und fühle mich bis heute nicht erwachsen, sondern immer noch wie ein kleines Kind.“
Ihr Lebensweg ist geprägt von Aufbrüchen, Fluchten und beruflichen Neuanfängen. Mit 17 Jahren zieht sie Hals über Kopf zu Hause aus. Die Ehe der Eltern ist inzwischen geschieden, die Mutter ein zweites Mal verheiratet. Mit 19 Jahren erwartet sie ihr erstes Kind, die Beziehung hält nicht lange – ihr damaliger Partner, sagt sie, sei genauso unreif gewesen wie sie selber. Es folgen eine zweite Schwangerschaft und zwei gescheiterte Ehen.
Einsam sein gilt als „Geißel des 21. Jahrhunderts“
„Ich bin die ganze Zeit auf der Suche nach etwas, aber ich finde es nicht“, beschreibt die 50-Jährige ihre lebenslange Verunsicherung und Rastlosigkeit. Die Beziehung zu den Kindern nimmt Schaden, als sie sich von ihrem ersten Ehemann trennt und Sohn und Tochter bei ihm wohnen bleiben. Inzwischen ist die Verbindung zur Tochter gänzlich abgerissen. Damals sei ihr ihre Einsamkeit zum ersten Mal richtig bewusst geworden, sagt Britta Struß. „Als die Kinder weg waren, ist innerlich alles so richtig aus den Fugen geraten.“ Und bis heute nicht mehr heil geworden.
Einsamkeit hat viele Wurzeln, darüber sind sich Soziologen, Psychologen und Mediziner einig. Erst seit rund zehn Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der unterschiedlichsten Fachrichtungen verstärkt mit der „Geißel des 21. Jahrhunderts“ und versuchen zu verstehen, was das Herdentier Mensch in die Vereinzelung treibt. Fest steht: Einsamkeit ist keine Frage des Alters, und – wohl niemand ist ein Leben lang gefeit dagegen. Nicht nur unter Menschen über 60, auch unter jüngeren zwischen 30 und 39 Jahren ist sie relativ stark verbreitet. Zu diesem Schluss kommt der 2019 veröffentliche Report „Einsamkeit in Deutschland“, in Auftrag gegeben vom „Institut der Deutschen Wirtschaft“. Arbeitsgrundlage waren die Daten von bundesweit rund 26 000 Personen, denen im Abstand von vier Jahren drei Schlüsselfragen gestellt worden waren: „Haben Sie oft das Gefühl, dass Ihnen die Gesellschaft anderer fehlt? …, außen vor zu sein? …, dass Sie sozial isoliert sind?“
Am meisten klagen junge Menschen über zunehmende Vereinsamung
Was die Autorinnen des Reports, Anja Katrin Orth und Theresa Eyerund, besonders beunruhigte: Am meisten klagten die 20- bis 29-Jährigen über eine zunehmende Vereinsamung. 29 Prozent gaben 2017 an, sich weitaus einsamer zu fühlen als noch 2013. Die Gründe dafür könnten Lebensumbrüche wie der Auszug aus dem Elternhaus, der Beginn einer Lehre oder eines Studiums sein, mutmaßen die Autorinnen. „Diese Wechsel, die vielmals auch mit einem Umzug verbunden sind, machen es schwieriger, alte soziale Kontakte zu pflegen, und erfordern es, neue Verbindungen aufzubauen.“ Auch die vieldiskutierte „höhere Nutzung sozialer Medien und digitaler Kommunikationsmittel“ könne für „die negative Dynamik in dieser Altersgruppe“ verantwortlich sein. Ältere und alte Menschen hingegen würden oft durch gesundheitliche Probleme oder den Tod des Partners oder der Partnerin ins Abseits gedrängt.
Auch Buchautorin Diana Kinnert hat die fortschreitende Digitalisierung als einen Feind des direkten menschlichen Miteinanders ausgemacht. Wer sich befeuert von der Angst, etwas zu verpassen, stets und stetig in der digitalen Welt herumtreibt, der verliert irgendwann die Bodenhaftung im realen Hier und Jetzt. Ein weiteres Übel aus der Sicht der Christdemokratin: Unsere „zerstückelte“ und „überindividualisierte“ Gesellschaft, in der jeder sein eigenes Süppchen kocht. „Das moderne Individuum löst sich von festen sozialen Klammern, denkt nicht mehr in Klassen, Schichten Geschlechterrollen. Vielmehr entwirft es seinen eigenen Lebenslauf, entwickelt eigene Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften“, schreibt sie. Und fragt: „Sind uns die verbindenden Elemente abhandengekommen? Fehlen uns womöglich gemeinsame Themen? Sitzen wir in unterschiedlichen Blasen?“
„Man blutet langsam aus“
Auszuschließen ist das nicht. Die „neue Einsamkeit“, dieses „kollektiv verbreitete Ausschlussgefühl“, zeuge von einer „systematischen Verbindungslosigkeit“, die längst „perverse Züge“ angenommen habe, schreibt Kinnert. „Es geht dabei nicht um physische Abwesenheit von Bindungen, sondern um die abgründig moderne Unfähigkeit, sich Intimität überhaupt noch zu trauen und Nähe auszuhalten.“
Befeuert wird der Trend zur Vereinzelung durch die Corona-Krise und die damit verbundenen Restriktionen. Jeder Mensch für sich allein, und das am besten 24 Stunden am Tag. „Man blutet langsam aus“, sagt Sven Weber. „Das ist kein richtiges Leben.“ Der 23-Jährige studiert in Köln Biologie, Germanistik und Geowissenschaften und wohnt in einem Studierendenheim. Zehn Quadratmeter Enge, auf den Gängen und in der Gemeinschaftsküche herrscht Maskenpflicht. Vorlesungen und Seminare finden nur noch digital statt. Manchmal rede er tagelang mit keiner Menschenseele, sagt Sven Weber. Viele Mitbewohnerinnen und Mitbewohner seien inzwischen zurück zu ihren Eltern gezogen – „man trifft höchstens mal jemanden auf dem Gang und sagt Hallo.“
Sven Weber ist Einzelkind, er habe in seiner Kindheit und Jugend durchaus Phasen von Einsamkeit erlebt, sagt er. Inzwischen habe er „vielleicht drei Menschen, die mich richtig verstehen, und von denen ich hoffe, dass das in 40 Jahren immer noch so ist“. Die seien ihm wichtiger als 100 oberflächliche Kontakte. Indes: Gegen die situationsbedingte Einsamkeit helfen auch sie nicht immer. Alle drei, vier Tage oder am Wochenende verabredet er sich mit jemanden zum Lernen oder zum gemeinsamen Frühstück. „Die Frage ist, wie oft ich das machen kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich zu viele Leute treffe.“
Ab und zu besucht er für einige Tage die Mutter im Bergischen. Das müsse reichen, um den sozialen Tank wieder aufzufüllen. „Es ist so, als würde ein Ausgedursteter ein paar Schlucke trinken, damit er wieder eine Woche durchhält.“ Wie lange er das noch schaffe, wisse er nicht. „Noch ist der Tank voll genug, damit ich nicht durchdrehe. Aber als Karl Lauterbach vor ein paar Wochen sagte, dass der Lockdown wegen des mutierten Virus noch lange dauern wird, habe ich sehr geheult.“
Rebecca Engel geht es ähnlich. Auch an ihr „nagt die Verzweiflung“. Die 32-Jährige ist im vergangenen Jahr mit ihrem Partner aus dem niedersächsischen Helmstedt zurückgezogen in ihre Heimatstadt Köln und seitdem arbeitslos. Einsamkeit war ihr bis dato fremd, doch das hat sich in den vergangenen Monaten geändert. Alte Kontakte konnte sie bislang nur per Telefon wiederbeleben, die Begegnungen mit den Eltern sind auf ein Minimum reduziert. „Beide sind Hochrisiko-Patienten. Wir sehen uns nur zum Einkaufen und in Verbindung mit einem vorherigen Schnelltest.“ Auch die Wochenendtrips zu Freunden in anderen Bundesländern sind auf Eis gelegt.
„Eigentlich sehe ich nur noch meinen Freund“, sagt Rebecca Engel. Doch das reiche auf Dauer nicht, um die corona-bedingte Isolation zu ertragen. „Wir gehen dreimal am Tag mit dem Hund raus. Man ist ja schon froh, wenn man andere Hundebesitzer trifft und die Tiere sich kurz beschnüffeln.“ Vor allem vermisse sie den Körperkontakt zu anderen Menschen. „Ich bin jemand, der die Leute gern umarmt, Küsschen rechts, Küsschen links.“ Seit Monaten leide sie unter Schlafstörungen. Mit den Freund komme es immer öfter zu Reibereien, „weil wir ständig aufeinander hocken“. So oft wie in den vergangenen Monaten, sagt Rebecca Engel, habe sie noch nie geweint.
Einsamkeit ist gefährlicher als Fettleibigkeit
Dass Einsamkeit, ob durch die Pandemie bedingt oder als Lebensbegleiter, krank an Körper und Seele machen kann, ist offenkundig. „Menschen sind soziale Wesen und brauchen einander“, sagt der Düsseldorfer Diplom-Psychologe André Weiß. „Isolation fördert die Ängstlichkeit.“ Seine Sorge: „Das Tragen von Masken und das Abstandhalten, so wichtig all das zurzeit ist, könnten zur Normalität werden und dazu beitragen, dass sich die Menschen weiter voneinander distanzieren.“
Die Folgen könnten fatal sein. Das zumindest legen zwei US-amerikanische Meta-Analysen aus den Jahren 2010 und 2015 nahe. Einsamkeit und soziale Isolation erhöhten die Gefahr, frühzeitig zu sterben, und seien sogar ein höherer Risikofaktor als Fettleibigkeit, so das Ergebnis der beiden Abhandlungen. Die Autorinnen und Autoren hatten dafür mehr als 200 Studien aus der ganzen Welt ausgewertet, die sich mit Einsamkeit und deren möglichen Folgen befassen. Das Credo der Untersuchungen: Wer einsam sei, der sei oft auch körperlich nicht gut aufgestellt und geht alles in allem nicht gut mit sich um. Was zu Bluthochdruck, Alkoholismus, Demenz und früher Sterblichkeit führen könne.
Das Bedürfnis nach Zusammensein stärken, nicht leugnen
Was also tun, um der „Epidemie der Einsamkeit“ Einhalt zu gebieten? Mehr Gemeinsamkeit wagen, rät Diana Kinnert. Die Politik müsse präventive Maßnahmen anstoßen, „soziale Orte“ neu erarbeiten, „neue Orte der Öffentlichkeit“ schaffen. „Wir dürfen das Bedürfnis nach Zusammensein nicht leugnen, wir müssen ihm eine Stimme geben, ein Gesicht, eine Lobby. Das wäre geboten. Eine Armee der Fühlenden.“
„Tja“, sagt Britta Struß. „Wenn das so einfach wäre.“