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Tag der Deutschen EinheitProteste im Osten – Linke will sich abgrenzen

Lesezeit 4 Minuten

Proteste (Symbolbild)

  1. Rund um den Jahrestag der Deutschen Einheit nehmen die Proteste zu.
  2. Vor allem im Osten geht es dabei nicht mehr nur um hohe Energierechnungen.
  3. Der Frust sitzt tiefer – und wird auch von Rechten aufgegriffen.

Berlin – Friseurmeisterin Petra Scholz schickte eine Warnung voraus. Ihre Rede werde „etwas kritisch“ werden, rief sie vor einigen Tagen vor Demonstranten im sächsischen Plauen. Ihr stehe das Wasser bis zum Hals, sie sei kurz davor, alles zu verlieren, sagte die alleinerziehende Mutter. Dann sprach sie vom Widerstand gegen Corona-Impfungen, von Kritik an westlichen Eliten, von medialen Vorgaben, „wie wir zu denken haben“. Am Ende ein Wutausbruch gegen die „Diktatur des Westens“ und die Regierung: „Jagen wir sie endlich zum Teufel!“

Ostbeauftragter fordert zum Einmischen auf

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, hat die Ostdeutschen aufgefordert, sich stärker in gesamtdeutsche Debatten einzumischen. „Wir dürfen uns nicht auf uns selbst zurückziehen und unsere eigene kleine DDR wiederaufbauen“, sagte Schneider gestern am Rande der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Erfurt.

Die Vielfalt der deutschen Erfahrungen, die mit der Wende und der Einheit verbunden seien, ließen sich nur erfassen, wenn die Menschen im Osten neugierig auf eine bundesdeutsche Perspektive seien. Die bisherige Perspektive würde die vielfältigen Lebenswege von Menschen in Ost und West nach 1990 nicht ausreichend berücksichtigen. (dpa)

Ähnliche Szenen wiederholen sich dieser Tage an vielen Orten, vor allem in Ostdeutschland. Sowohl die Linke als auch die AfD und diverse andere rechte Gruppen trommeln zum „heißen Herbst“ gegen die Energie- und Sozialpolitik der Regierung. Tausende kommen, der Zulauf wächst. Dabei mischen sich Klagen über hohe Gas- und Stromrechnungen mit Breitseiten gegen die Ampel, allgemeiner Verdruss mit grundsätzlichen Zweifeln am demokratischen System, Empörung über den Ukraine-Krieg mit Kritik an den westlichen Russland-Sanktionen – es mischt sich alles mit allem, die Wortwahl von rechts und links ähnelt sich plötzlich. Das ist das zwar weit entfernt von den von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) befürchteten „Volksaufständen“. Aber der Herbst hat erst begonnen.

Zunahme der Proteste erwartet

„Wir sind erst am Anfang der Mobilisierung“, sagt Linken-Chef Martin Schirdewan. „Da wird noch einiges kommen. In den nächsten Wochen erhalten viele die stark erhöhten Abschlagsrechnungen für Gas und Strom. Das betrifft Millionen Menschen. Unsere Botschaft ist: Wir sind da.“ Das Bundeskriminalamt rechnet laut Medienberichten mit einer Zunahme der Proteste, Verfassungsschützer ebenfalls. „Wir müssen uns auf dieses Szenario einstellen“, sagt der Chef des sächsischen Verfassungsschutzes, Dirk-Martin Christian, der „Leipziger Volkszeitung“.

„Wohlstandspuffer im Westen größer“

Klar scheint, dass vor allem im Osten viele Menschen empfänglich sind für die jüngsten Protestaufrufe. „Grundsätzlich treffen die hohen Energiepreise und die Teuerung natürlich alle bundesweit, allerdings gibt es im Osten weniger Vermögen, einen höheren Anteil kleiner Unternehmen mit weniger Rücklagen und geringere Einkommen“, sagt die Grünen-Politikerin Paula Piechotta. Die promovierte Radiologin stammt aus Gera und sitzt für den Wahlkreis Leipzig II im Bundestag. „Der Wohlstandspuffer im Westen ist einfach größer.“ Zugleich sind die Erinnerungen an die Jahre nach der Einheit im Osten frisch, das Zutrauen zur Politik schwach. Nach dem jüngsten Bericht des Ostbeauftragten Carsten Schneider sind nur 39 Prozent der Menschen im Osten zufrieden mit der heutigen Demokratie.

Rechte Strukturen sind etabliert

In die Unzufriedenheit klinken sich rechte Gruppen ein. So sieht es der sächsische Verfassungsschützer Christian: „Die berechtigten Sorgen und Nöte der Bürger dienen den Rechtsextremisten nur als Vehikel für ihre verfassungsfeindliche Agenda.“ Und das weiß auch Piechotta: „Das Demogeschehen ist im Osten ein anderes, das ist einfach faktisch so.“ Rechte Strukturen hätten sich in der Migrations- und der Corona-Zeit in ländlichen Regionen etabliert – nicht nur die AfD, sondern auch rechtsextreme Gruppen wie die Freien Sachsen. Die Strukturen würden jetzt wieder genutzt.

Linke will sich abgrenzen

Diese Analyse teilt Linke-Parteichef Schirdewan. „Wir setzen dagegen auf breite demokratische Bündnisse vor Ort“, betont er. Er hofft, dass die Gewerkschaften demnächst breiter mit einsteigen. Bisher sind Proteste der Linken im Vergleich zur Rechten oft kleiner. Die Linken-Spitze legt auch Wert darauf, sich von der Rechten abzugrenzen. Geklappt hat das nicht immer. In Brandenburg an der Havel protestierten vor einigen Tagen Politiker der Linken ohne große Distanz mit Vertretern der AfD und der rechten Szene, wie die Linken-Landesspitze kritisierte.

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Angesichts starker Umfrageergebnisse für die AfD im Osten appelliert Grünen-Politikerin Piechotta an die Linke, sich wie bisher mit Grünen und SPD zumindest auf lokaler Ebene gegen rechts zu stellen. Werde die AfD im Osten noch stärker, werde es immer schwieriger für die übrigen Parteien, stabile Regierungen zu bilden. „Wenn dieser Winter schief geht, könnte der Osten noch unregierbarer werden, weil die Mitte weiter ausgedünnt wird“, sagt die Grünen-Politikerin. (dpa)