Berlin – Im Bundestag flogen schon am Mittwoch die Fetzen: Grüne und SPD sind stinksauer auf die FDP, die Gesundheitsminister Karl Lauterbach den „Freedom Day“ abgerungen hat, den Wegfall aller bundesweiten Anti-Corona-Maßnahmen ab Sonntag. Heute folgt der erste Schlagabtausch zur Impfpflicht, und nachmittags ringen Bund und Länder um die Exit-Strategie. Was bringen die kommenden Tage?
Rekord-Inzidenzen, aber wenig los auf den Intensivstationen
Die Corona-Lage stellt die Politik weiter vor Herausforderungen. Da sind zum einen die seit zwei Wochen wieder steigenden Inzidenzen auf am Mittwoch 1600,7 Fälle pro 100000 Einwohner, so viele wie nie. Der Wettereffekt, also wärmere Temperaturen und Sonne, könnte die Ausbreitung bald bremsen. Virologen erwarten gleichwohl vorerst noch einen weiteren Anstieg. Weil die Omikron-Mutante weit weniger gefährlich ist als etwa Delta, sind die Inzidenzen allein nicht mehr ausschlaggebend, sondern die Zahl der Intensivpatienten und Todesfälle. Seit Ende Januar ist die Lage auf den Intensivstationen wieder relativ entspannt. Bundesweit rund 2500 Fälle mit Corona – halb so viele wie im Januar 2021. Eine Überlastung ist nicht in Sicht, auch wenn die Belegungszahlen zuletzt wieder stiegen. Die Zahl der Todesfälle liegt weiter bei oft über 200 pro Tag. Am Mittwoch waren es 269. So gut wie alle sind Hochbetagte und Vorerkrankte.
Am stabilsten ist die Impfquote. Seit Anfang Februar hat sich kaum noch jemand impfen lassen. Von den eher gefährdeten Menschen ab 60 Jahren – 24,1 Millionen – sind mehr als 20 Prozent noch nicht geboostert. Wie viele Menschen nach einer Ansteckung immunisiert sind, weiß niemand genau.
Trotzdem höchste Zeit für den Freedom Day?
So sieht es die FDP. Parteichef Christian Lindner und Justizminister Marco Buschmann (FDP) haben Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) quasi genötigt, dem Wegfall aller bundesweiten Eindämmungsmaßnahmen zuzustimmen. Hätte sich Lauterbach quergestellt, hätte die FDP das Infektionsschutzgesetz einfach auslaufen lassen können.
So konnte Lauterbach immerhin eine „Hotspot“-Regelung durchsetzen. Diese erlaubt es den Bundesländern in Regionen mit besorgniserregender Entwicklung, Maskenpflicht und Testregime anzuordnen. Dafür braucht es allerdings das grüne Licht des jeweiligen Landesparlaments. Weil Eindämmungsmaßnahmen sehr unpopulär sind, fühlen sich die Länder vom Bund im Stich gelassen.
Im Bundestag wurde am Mittwoch in erster Lesung über die Änderungen im Infektionsschutzgesetz debattiert, und zwar heftig. Die Unionsfraktion warf der FDP vor, Lauterbach „in Geiselhaft“ genommen zu haben, der Wegfall aller Maßnahmen mache „fassungslos“. Die Grünen räumten ein, es falle „sehr schwer“, zu dem eigenen Gesetz zu stehen. Die SPD verwies auf die Zusage der FDP, dass „gegebenenfalls nachgesteuert wird“ – doch dann müsste das Gesetz überarbeitet werden, was nicht von heute auf morgen zu stemmen ist.
Die FDP ihrerseits lehnte Änderungen bis Freitag, wenn das Gesetz verabschiedet werden soll, ab. Ihre Gesundheitsexpertin Christine Aschenberg-Dugnus sagte, seit Omikron habe sich die Lage in den Krankenhäusern von den Inzidenzen „weitgehend entkoppelt“. Es liege nun in der Eigenverantwortung der Bürger, sich und andere weiter freiwillig durch Masken zu schützen.
Ein Feiertag dürfte der Freedom Day jedenfalls nicht werden. Die meisten Bundesländer wollen die Maskenpflicht im Einzelhandel ohnehin bis Anfang April verlängern. Ob es dazu beim Bund-Länder-Gipfel am Donnerstag eine einheitliche Linie geben wird, blieb am Mittwoch noch offen.
Wird die Impfpflicht zum Rohrkrepierer?
Auch da ist die Ampel zerstritten. Eine Gruppe um FDP-Mann Wolfgang Kubicki lehnt eine Impfpflicht kategorisch ab. Hinter einem Gruppenantrag der Koalition für eine allgemeine Impfpflicht haben sich zwar rund 230 Abgeordnete versammelt, das ist aber weit von der erforderlichen Mehrheit entfernt.
Mediziner warnen
Die Ärzteschaft ist unzufrieden mit den Plänen der Ampel-Koalition für künftige Corona-Schutzmaßnahmen. Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, kritisierte, dass nur beispielhaft aufgeführt werde, ab wann die Länder schärfere Maßnahmen erlassen können. Das werde „zwangsläufig zu einem bundesweiten Flickenteppich unterschiedlicher regionaler Regelungen führen. Das verunsichert die Bevölkerung unnötig“, beklagte Reinhardt in der „Rheinischen Post“. (dpa)
Grünen-Chef Omid Nouripour warb vor den ersten Beratungen an diesem Donnerstag für die Einführung der Impfpflicht: „Ich halte sie weiterhin für ratsam“, sagte er im Gespräch mit unserer Redaktion. „Es bleibt richtig, dass wir alles tun müssen, um im nächsten Herbst nicht wieder von einer hohen Welle überrollt zu werden.“ Niemand wisse, ob eine neue, gefährliche Corona-Mutante entstehe, so Nouripour.
Bei SPD und Grünen hoffen sie, dass man sich noch mit Unionsfraktionschef Friedrich Merz auf einen Vorschlag einigen könne, der aber allenfalls auf eine Impfpflicht nur für Ältere und auch nur bei absehbar kritischer Entwicklung hinauslaufen dürfte. „Totgesagte leben länger“, hieß es aus der Grünen-Fraktion zur Impfpflicht. Tag der Entscheidung dürfte der 8. April werden, wenn der Bundestag final abstimmen soll.