Berlin Kassenärztechef Andreas Gassen (60) ist quasi Deutschlands oberster Impf-Manager. Im Interview rechnet der Mediziner mit der Corona-Politik von Minister Karl Lauterbach ab.Herr Gassen, die Corona-Zahlen sind hoch, Kliniken klagen über Personalausfälle wegen zu vieler Infizierter. Ein Grund zur Sorge?
Gassen: Nein, eigentlich nicht. Die Infektionszahlen sind seit Monaten sehr hoch. Da gleichzeitig weniger getestet wird, können wir zusätzlich von Hunderttausenden von nicht erkannten Ansteckungen pro Tag ausgehen. Aber: Die Verläufe sind fast immer milde! Das Problem sind also nicht die vielen Infektionen, sondern dass positiv Getestete auch ohne Symptome mehrere Tage zu Hause bleiben, in Isolation geschickt werden. Dadurch entstehen die Personalengpässe in den Kliniken und anderswo.
Dann braucht es keine neue Eindämmung?
Das Prinzip der Eindämmung oder gar No Covid wird von niemandem mehr ernsthaft verfolgt, China mal ausgenommen. Ich plädiere dafür, die Omikron-Mutante fast als „Friedensangebot des Virus“ zu sehen. Wer sich nach Dreifachimpfung ansteckt, profitiert sogar von einer Infektion, indem er oder sie eine Schleimhautimmunität erwirbt. Gegen schwere Verläufe sind Geimpfte gut geschützt. Niemand sollte sich deshalb aktiv anstecken. Aber wir können uns nicht dauerhaft vor dem Virus verstecken. Und wir sind das letzte Land in Europa, das noch derart aufgeregt über einen Corona-Notstand diskutiert.
Also komplett weg mit Quarantäne- und Isolationspflichten?
Pauschal wäre mir das zu verkürzt, bei gefährlicheren Varianten können solche Regeln sinnvoll sein. Aktuell sehe ich aber wirklich keinen Grund, die Menschen von der Arbeit abzuhalten, wenn sie sich nicht krank fühlen. Daher ja, die Isolations- und Quarantänepflichten sollten bis auf Weiteres aufgehoben werden, dadurch würde die Personalnot vielerorts gelindert. Wir müssen zurück zur Normalität. Wer krank ist, bleibt zu Hause. Wer sich gesund fühlt, geht zur Arbeit. So halten wir es mit anderen Infektionskrankheiten wie der Grippe auch.
Statt Lockerungen bereiten Bund und Länder eine Testpflicht für Veranstaltungen vor…
Es sind in Deutschland alle Impfwilligen geimpft oder genesen beziehungsweise geimpft und genesen. Sie alle sind vor schweren Verläufen geschützt. Wer immungeschwächt oder vorerkrankt ist, dem würde ich vom Besuch eines Rockkonzertes im Stadion abraten. Aber eine Testpflicht für alle Veranstaltungen, die Rückkehr zu 1G, das wäre eine aberwitzige Rolle rückwärts. Um die gewaltigen Finanzlücken zu stopfen, sollen die Kassenbeiträge angehoben und Leistungen gekürzt werden, und zugleich wollen Bund und Länder weiter Milliarden Euro für sinnfreie Tests von symptomfreien Menschen rausballern. Da kann ich nur den Kopf schütteln.
Auch über den neuen Booster-Appell von Gesundheitsminister Karl Lauterbach?
Wissenschaftlich bestätigt ist: Alte und Vorerkrankte profitieren von einer zweiten Boosterimpfung. Unter anderem aus israelischen Studien wissen wir, dass ein zweiter Booster bei jüngeren Gesunden aber nicht sinnvoll ist. Herr Lauterbach sieht es anders, ist mit seiner Empfehlung zum zweiten Booster für alle allerdings ziemlich exklusiv unterwegs. 30- oder 40-Jährigen pauschal eine vierte Impfung zu empfehlen, das halte ich für falsch.
Und im Herbst?
Auch im Herbst sehe ich aktuell dafür keine Notwendigkeit, solange es nicht neue und deutlich gefährlichere Varianten gibt. Ich werde mir jedenfalls keinen zweiten Booster geben lassen. Selbst bei den gesunden älteren Menschen wäre ich mit der Viertimpfung zurückhaltend, insbesondere, wenn sie gerade schon eine Omikron-Infektion überstanden haben. Das Immunsystem ist ein hochkomplexes Organ. Alle paar Monate unkritisch eine Boosterimpfung, nur weil so viel Impfstoff bestellt wurde? Etliche Immunologen warnen davor! Viel hilft nicht immer viel.
Wie viele Impfungen braucht es denn nun in Deutschland bis zum nächsten Frühjahr?
Die KBV hat das mal kalkuliert: Bei einem zweiten Booster für alle ab 60, einem ersten Booster für alle Jüngeren und einem üppigen Kontingent für Ungeimpfte – ohne große Hoffnung, dass bisherige Impfskeptiker sich jetzt impfen lassen – kommen wir – großzügig gerechnet – auf rund 30 Millionen Impfungen. Das ist von den Praxen zu schaffen, auch parallel zu Influenza-Impfungen. Dafür braucht es keine Impfzentren oder Laienimpfungen durch andere Berufsgruppen.
Die Regierung plant mit 50, 60 Millionen Impfungen…
Das ist unseres Erachtens unrealistisch. Wenn tatsächlich, wie in den Medien berichtet, angeblich über 200 Millionen Dosen von Herrn Lauterbach bestellt worden sind, wird der größte Teil beim besten Willen nicht an den Mann und die Frau zu bringen sein. Es ist dann zu erwarten, dass Impfstoff im Wert von möglicherweise hundert Millionen Euro oder mehr weggeworfen werden muss.
Mit einem kritischen Corona-Herbst, der womöglich doch noch viele Ungeimpfte zur Spritze bewegen würde, rechnen Sie nicht?
Ich blicke wachsam auf Herbst und Winter. Für die von Herrn Lauterbach befürchtete „Killer-Mutante“, die so ansteckend wie Omikron und so gefährlich wie Delta ist, gibt es derzeit keine Anzeichen. Es wird neben Corona deutlich mehr Influenza-Fälle geben, weil die Menschen zwei Jahre lang künstlich von allen Infektionen ferngehalten wurden. Für Kinder war dieser Kokon besonders schädlich, wie wir längst wissen. Sorgen bereiten mir daher nicht die aktuelle Corona Entwicklung, sondern die Rufe für erneute überzogene Schutzmaßnahmen bis hin zu einem neuen Lockdown, den sich etwa der ehemalige Berufspolitiker Montgomery wünscht.
Also Abwarten und Tee trinken?
Nicht ganz. Es gibt bereits eine grundsätzlich sinnvolle Hotspot-Regelung, wonach Landkreise Maßnahmen ergreifen können, wenn sich die Corona-Lage lokal anspannt. Hier beklagen die Länder teilweise zu unscharfe Parameter. Das Infektionsschutzgesetz sollte um solch klaren Parameter ergänzt werden, um die Hotspot-Regel für die Länder einfacher handhabbar zu machen. Damit also Landkreise, Kommunen oder Städte ohne komplizierte Abstimmungsprozesse mit den Ländern oder gar dem Bund schnell, regional und zeitlich begrenzt eindämmen können.
An welche Parameter denken Sie?
Maßnahmen braucht es letztlich nur, wenn eine nachweislich gefährlichere Virusvariante auftaucht und als Folge davon die Zahl der Schwerkranken erheblich ansteigt und eine Überbelegung der Intensivstationen droht. Sonst nicht.
Und welche Optionen wären notwendig?
Wenn in München eine hochgefährliche Variante entdeckt wird, wäre es sicher sinnvoll, das Bundesligaspiel des FC Bayern in der Allianz-Arena mit Maßnahmen zu flankieren oder gar abzusagen. Auch die Möglichkeit, einzelne Großveranstaltungen zu verbieten, gehört in den Instrumentenkasten.
Auch eine zeitlich und örtlich begrenzte Maskenpflicht für ÖPNV und Einzelhandel kann helfen, die Verbreitung einer neu aufgetretenen Variante zu bremsen, und sollte als Option auf den Tisch, wenn eine vorher ausgesprochene Empfehlung zum Maskentragen nicht befolgt wird. Hierbei muss klar sein, dass das auch nur begrenzt hilft. Die meisten Infektionen finden im Privaten und am Arbeitsplatz statt. Einen neuen Lockdown auch nur zu erwägen, halte ich hingegen für absurd.