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Interview mit Rudolf Scharping zu 9/11„Ich hatte Angst um meine Tochter“

Lesezeit 3 Minuten
Rudolf Scharping

Rudolf Scharping (Archivbild) 

  1. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 musste Rudolf Scharping als SPD-Verteidigungsminister kühlen Kopf bewahren – dabei lebte seine Tochter in New York.
  2. Im Gespräch mit Thomas Ludwig erinnert sich der 73-Jährige an den Terror und die Folgen.

Herr Scharping, Sie waren am 11. September 2001 Bundesverteidigungsminister. Wie erinnern Sie die Anschläge auf das World Trade Center?

Ich kam gerade aus einer Ausschusssitzung ins Büro; ich sah eine Maschine in eines der Hochhäuser fliegen, im Fernsehen. Zuerst dachte ich, das wäre ein schlechter Spielfilm. Mir wurde aber sehr schnell klar, das war bittere Realität. Zu diesem ersten Schock kam noch ein zweiter hinzu: die Angst um meine Tochter, die damals in New York lebte. Der 11. September war für mich also eine große politische Herausforderung, zugleich war ich auch privat sehr angefasst.

Wie lange blieben Sie über Ihre Tochter im Ungewissen?

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Das hat bis zum darauffolgenden Tag gedauert, weil die Kommunikationskanäle alle unterbrochen waren.

Was war für Sie als Verteidigungsminister das Schwierigste in der damaligen Lage?

In dieser Zeit die menschliche Empörung und Sorge in Übereinstimmung zu bringen mit einem nüchternen politischen Urteil, das auch die Fähigkeiten, die man hat, einschließt, und die Kräfte, über die man verfügt und was man durchhalten kann.

War es im Nachhinein richtig, den Bündnisfall auszurufen? Die Afghanistan-Mission endete schließlich im Desaster, wie wir heute wissen.

Das muss man schon differenziert sehen. Zunächst einmal: Der Bündnisfall bedeutet, dass man sich gegenseitig Beistand leistet, um die Sicherheit des betroffenen Partners sicherzustellen. Wir hatten uns allerdings nie vorstellen können, dass wir innerhalb der Nato einmal wegen der Vereinigten Staaten den Bündnisfall feststellen. Aber wir können ja nicht über Jahrzehnte von der Nato-Sicherheitsgarantie für unsere eigene Freiheit und Sicherheit profitieren und dann so tun, als ginge uns ein Angriff auf die Vereinigten Staaten nichts an. Das andere ist: Grundlage für den Afghanistan-Einsatz war die UN-Resolution 1368, die am 12. September 2001 vom Weltsicherheitsrat einstimmig als Reaktion auf die Terroranschläge verabschiedet wurde. Sie bekräftigt das Recht zur Selbstverteidigung auch nach Terrorangriffen. Es wäre allzu vereinfachend und politisch auch gefährlich, das, was wir heute in Afghanistan erleben, unmittelbar mit dem Geschehen 2001 zu verknüpfen. Das heutige Desaster in Afghanistan begann mit dem Abkommen, das unter Präsident Trump im Februar 2020 mit den Taliban abgeschlossen wurde. Das ist ein schreckliches Erbe, weil sich die Vereinigten Staaten auf einen Truppenabzug festgelegt haben ohne jede Konditionierung und nur auf der Grundlage von Versprechungen.

Viele Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan waren, fragen sich: Wofür das alles, war der Einsatz umsonst?

Ich denke, dass die Befreiung unserer Gesellschaften von unmittelbar bedrohlichen terroristischen Anschlägen ein Gewinn ist, den wir vor allem unserem Militär verdanken. Auch die Erfahrungen, die in Afghanistan eine Generation sammeln konnte, dass die Möglichkeiten, die sich aufgetan haben, dass dies alles andere als vergeblich war. Wenn man sich anguckt, wie das Umfeld 2001 nach fünf Jahren brutalstem Taliban-Regime war und wie sich das Umfeld jetzt entwickelt, dann kann man da auch Unterschiede sehen. Das sollte man zu nutzen versuchen.

Mit dem Terror von 9/11 ist der Islam als Religion in Verruf geraten. Das erschwert bis heute das Zusammenleben. Täuscht das?

Was da in den letzten Jahren passiert ist, was gewissermaßen den Islam als die Quelle allen Übels dargestellt hat und als eine rein gewalttätige Religion, das ist kein sorgfältiges Abbild einer viel differenzierteren Realität. Wir müssen von der Vorstellung weg, dass ein Moslem per se ein potenzieller Gewalttäter sei. Islam, das ist so differenziert nach Ländern, nach religiösen Strömungen, nach Verhaltensweisen, nach wirtschaftlichen Möglichkeiten, nach kulturellen Bedingungen ... Dieses differenzierte Bild der Realität brauchen wir, wenn wir Optionen für bessere Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen und nutzen wollen.