Ein Generalvikar tritt zurück und wechselt die Konfession: Mit Andreas Sturm hat einer ihrer einst mächtigsten Geistlichen in Deutschland die römisch-katholische Kirche verlassen. Raimund Neuß sprach mit ihm.
Vor ein paar Wochen haben Sie Ihr Amt als Generalvikar in Speyeraufgegeben, und dann ging es für die Öffentlichkeit überraschend schnell: Ihre Zukunft als alt-katholischer Geistlicher ist geklärt, Ihr Buch ist da. Da muss es doch eine längere Vorbereitung gegeben haben, was ist da passiert?
Meine Freunde, meine Familie, aber auch eine breite Öffentlichkeit haben schon lange gemerkt, dass es mir in meinem Amt nicht mehr gut geht. Im März 2021 hat sich die Glaubenskongregation gegen die Segnung Homosexueller positioniert, kurz danach habe ich das in einem Interview kritisiert, und viele Leute haben mich gefragt, ob mir eigentlich die Kraft ausgeht, ob ich mein Amt niederlegen will. Das hat mich nicht ständig begleitet, aber ich habe gemerkt, die Koordinaten stimmen nicht mehr, es gibt eine Entfremdung zwischen mir und meiner Kirche.
Andreas Sturm
Andreas Sturm, Jahrgang 1974, wurde 2002 zum katholischen Priester geweiht. Seit 2018 war er Generalvikar des Bistums Speyer. Von diesem Amt trat er am 13. Mai 2022 zurück, verließ zugleich die römisch-katholische Kirche und kündigte seinen Wechsel zu den Alt-Katholiken an, für die er ab August als Seelsorger tätig sein soll. Über seine Entscheidung hat er ein Buch geschrieben: „Ich muss raus aus dieser Kirche. Weil ich Mensch bleiben will. Herder Verlag, 185 Seiten, 18 Euro.
Dabei hatte ich doch den Anspruch, mein Amt ordentlich auszuüben. Zeitweise war mein Bischof krank, ich musste ihn vertreten und hatte nicht so viel Zeit, über mich nachzudenken, obwohl ich merkte, es passt nicht mehr. Ich musste meinen Mann stehen und meine Arbeit machen. Ich schreibe kein Tagebuch, aber seit Studienzeiten schreibe ich meine Gedanken zu wichtigen Dingen nieder. Das hilft mir bei verantworteten Entscheidungen – und daraus ist am Ende das Buch geworden.
Sie hatten eine Schlüsselposition, und wenn ich mich richtig erinnere, hat Bischof Karl-Heinz Wiesemann Sie auch unterstützt. Viele haben auf Sie und andere Geistliche, die denken wie Sie, gehofft. Sahen Sie denn gar keine Möglichkeit mehr, mit der Macht, die Sie ja hatten, etwas zu ändern?
Ich habe immer mehr Zweifel bekommen, dass sich wirklich etwas ändert. Wenn man einmal vom Thema der Lebensformen, also unter anderem der Homosexualität, absieht, waren alle anderen Punkte, über die heute auf dem Synodalen Weg debattiert wird, schon vor 50 Jahren auf der Würzburger Synode da: die Frage der Frauenordination, die Zölibatsfrage und, und, und.
Auf dem Synodalen Weg wird mit viel Leidenschaft diskutiert, ich habe großen Respekt davor und glaube auch, dass sich manches ändern lässt. Aber Entscheidendes lässt sich nicht ändern, denn die Entscheidungen fallen nicht hier, sondern in Rom. Und wenn ich die jüngsten Äußerungen vom Papst zum Synodalen Weg lese, habe ich erst recht Zweifel, ob sich etwas ändern lässt.
Aber Sie haben ja nicht nur Ihr Amt niedergelegt, Sie haben die katholische Kirche ganz verlassen. Warum?
Ich bin immer gerne arbeiten gegangen, ich hatte ein tolles Team und habe mich auch vor großen Brocken nicht gescheut. Gerade nach meinen Äußerungen zur Glaubenskongregation und zur Homosexualität haben mich immer wieder Gemeinden und Gruppen eingeladen, ob ich nicht mal zu diesem Thema predigen kann. Dann die Firmgottesdienste.
Ich habe junge Menschen eingeladen, sich einzubringen: An Euch liegt es, Ihr könnt was ändern. Oft habe ich dabei mein Herz gar nicht mehr gespürt. Wenn ich in einer Predigt für etwas brenne, dann will ich mich mit aller Leidenschaft dafür einsetzen – und ich habe gemerkt, dass die fehlt, dass es immer mehr ist wie das Abspielen einer Schallplatte. Ich habe mich gefragt: Wenn die Jugendlichen mich jetzt fragen, was ich wirklich glaube – was sage ich dann? Da ist es besser die Konsequenzen zu ziehen.
Und diesen jungen Leuten, würden Sie denen jetzt auch sagen: Es hat keinen Sinn, Ihr müsst aus dieser römisch-katholischen Kirche raus?
Ich will nicht zum Kirchenaustritt aufrufen, aber dazu, dass die Leute sich auf die Hinterfüße stellen, die etwas verändern wollen. Sie dürfen nicht darauf vertrauen, dass die da in Frankfurt auf dem Synodalen Weg schon alles richten werden. Wer etwas ändern will, muss aufstehen. Das muss eine Bewegung werden, und bis jetzt sehe ich nur einige wenige.
Maria 2.0 ist zum Beispiel keine wirklich breite Bewegung geworden, genauso wenig wie Wir sind Kirche und was es noch so gab und gibt. Viel zu viele haben es sich in ihrer Nische bequem eingerichtet, fühlen sich in ihrer Pfarrei oder ihrem Verband wohl und blenden viel zu viel von der harten Realität in der katholischen Kirche aus. Das darf nicht sein.
Sie schreiben offen darüber, dass Sie den Zölibat gebrochen haben. Wie wichtig war diese persönliche Erfahrung mit kirchlichen Normen?
Meine Entscheidung, die Kirche zu verlassen, hängt nicht an einer Partnerin. Aber ja, ich habe mich gefragt, ob ich mein Leben allein verbringen möchte oder ob ich mich auch zu einer Frau bekennen kann, wenn ich mich wieder verlieben sollte. Ich habe erlebt, zu welchen Verletzungen es führt, wenn man das nicht kann. Nicht nur bei mir, sondern bei vielen anderen auch. Das ist schon ein Aspekt, aber nicht der, der den Schluss nahe gelegt hat, ich muss da raus.
Den Zölibat könnte Rom relativ einfach abschaffen, das ist eine rein disziplinarische Norm …
Vor zwei, drei Jahren habe ich mich mit Priestern getroffen, die ihr 55- und 60-jähriges Weihejubiläum feierten. Sie haben erzählt, mit welcher Leidenschaft sie das Zweite Vatikanum erlebt haben. Sie sind alle davon ausgegangen, dass es bald die Möglichkeit für sie geben würde, zu heiraten. Keiner von ihnen hat geheiratet. Ich bin also sehr vorsichtig mit Prognosen auch zu solchen graduellen Reformen.
Ich hatte auch bei der Amazonas-Synode gehofft, dass was passiert. Es bleibt eine große Not. Wir schaffen immer größere pastorale Räume, die sich nur an Priestern ausrichten und nicht an der Notwendigkeit: Menschen brauchen Zuspruch. Da wäre es viel sinnvoller, wir hätten mehr Priester und Priesterinnen.
Aber zumindest beim kirchlichen Dienstrecht, beim Umgang mit Homosexuellen und wieder verheirateten Geschiedenen, da tut sich doch etwas, oder?
Da hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Wir hatten die Reform von 2015, da ging es einen gewaltigen Schritt nach vorn. Und das neue Dienstrecht, das jetzt zur Diskussion vorliegt, geht in die richtige Richtung – auch wenn ich noch große Zweifel daran habe, was passiert, wenn der Gemeindereferent mit einem Mann zusammenlebt oder die Pastoralreferentin mit einer Frau.
Übrigens was beide Seiten betrifft: vom kirchlichen Dienstrecht her, und aber auch von den Gläubigen selbst. Wir haben viele sehr widerständige, auch ehrenamtlich tätige Gläubige, die mit allen Mitteln gegen so etwas agieren. Derartige Briefe habe ich als Generalvikar genug bekommen. Wie gesagt, ich sehe gute Ansätze, es wird nicht im Juni über die Bühne gehen, aber vielleicht im Herbst. Ich hoffe, dass dann wirklich alle Bischöfe mitziehen.
Es ist interessant, was Sie da über die beharrenden Kräfte in den Gemeinden gesagt haben. Jetzt denken wir auch an Gläubige in insgesamt konservativer aufgestellten Bistümern im Ausland. Und an Kirchen in Diktaturen, die froh sind, wenn der Staat nicht über synodale Strukturen hineinregieren kann. Diese Weltkirche muss der Papst zusammenhalten – ist das nicht ein guter Grund dafür, eben doch nur langsam, in Jahrzehnten, Änderungen zu vollziehen?
Mir gefällt der Ansatz, den Papst Franziskus gelegentlich aufleuchten lässt, einzelnen Diözesen mehr Autonomie zu geben. Rom muss nicht alles für die ganze Welt steuern. Wir haben eine Ungleichzeitigkeit, wir sind in Deutschland bei manchen Themen weiter als in afrikanischen Ländern, wo sich wiederum ganz andere Fragen stellen. Aber warum bekommen die Bischofskonferenzen nicht mehr Autonomie?
Das könnte Sie auch interessieren:
Selbst bei der Diakonatsweihe für Frauen könnte man sich so eine Lösung denken. Richtig ist natürlich: Der Riss geht auch quer durch den Klerus, er verläuft nicht nur zwischen Klerus und Gläubigen. Man kann das auch nicht einfach per Abstimmung lösen. Synodalität bedeutet auch das Hören aufeinander. Und ich würde mir sehr wünschen, dass wir dann wirklich aufeinander hören. Auf Augenhöhe reden, Ängste verstehen, aber auch verstehen, warum manche da nicht mehr mitkönnen. Dann kann ich auch warten, aber nicht dann, wenn ich den Eindruck habe, manche wollen gar nicht mehr hören.
Sie haben jetzt mehrfach „Wir“ gesagt. Dabei sind Sie aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten. Sind Sie doch noch ein bisschen mit dem Herzen dabei?
Wie Sie sagen. Ja, ich war 47 Jahre dabei. Da ist viel Herzblut drin, da ist jetzt auch viel Abschiedsschmerz. Da ausgetreten, da eingetreten, das hört sich so leicht an. Ich habe lange nachgedacht und viel gebetet, und die Übergangszeit jetzt ist auch wichtig. Es hat für mich etwas Therapeutisches, dass das Buch jetzt draußen ist. Und dann muss es auch gut sein. Ich kann nicht den Rest meines Lebens bei meiner neuen Kirche sein, aber immer noch der alten Kirche Ratschläge geben.
Was macht das eigentlich mit Ihrer neuen Kirche? Derzeit gewinnt die alt-katholische Kirche mehr Gläubige durch Konversion als durch Taufe. Man könnte annehmen, das wird mancher alteingesesessenen alt-katholischen Familie, wie es sie etwa in Bonn gibt, nicht gefallen: Wird diese Kirche jetzt ein Verein von Ex-Römern?
Solche Stimmen habe ich nicht gehört, dazu bin ich noch zu wenig drin. Aber es wird interessant. Ich werde ja als alt-katholischer Geistlicher am Bodensee arbeiten. Da gibt es zwei Gemeinden. In Singen am Hohentwiel leben viele Konvertierte wie ich. In Sauldorf-Meßkirch gibt es einen großen Anteil von alteingesessenen Familien, wo schon der Urgroßvater alt-katholisch war.
Das ist ein ganz anderes Selbstverständnis. Und deshalb will ich ja auch mit meiner Vergangenheit abschließen. Ich kann nicht dauernd herumlaufen und meine Wunden aus der römisch-katholischen Kirche zeigen – zumal ich ja auch nicht nur Wunden habe. Ich habe tolle Menschen kennengelernt. Und ich hoffe, viele Freundschaften bleiben, auch wenn sie auf eine harte Probe gestellt sind.
Ja, wie nehmen Ihre alten Weggefährten Ihren Schritt auf?
Es gibt viel Enttäuschung. Trotzdem zollen mir viele bei aller Enttäuschung Respekt. Aber ich bekomme auch andere Stimmen zu hören, sehr verletzende, allerdings nicht aus meinem Nahfeld.