Braunschweig/Wiesbaden – Ist ein 43 Jahre alter Deutscher der Mörder der 2007 an der Algarve verschwundenen dreijährigen Madeleine „Maddie” McCann?
Staatsanwaltschaft und Bundeskriminalamt (BKA) halten das für möglich, sie ermitteln wegen Mordverdachts gegen den in Kiel hinter Gitter sitzenden Mann, der einige Vorstrafen hat. Bewiesen ist nichts. Aber an der Art der Ermittlungen wird eins klar: „Wir gehen davon aus, dass das Mädchen tot ist”, sagte der Sprecher der Braunschweiger Staatsanwaltschaft, Hans Christian Wolters.
Maddie verschwand am 3. Mai 2007 aus einer Appartementanlage im portugiesischen Praia da Luz. Die Eltern waren zu der Zeit in einem nahe gelegenen Restaurant essen. Die Ermittler waren von einer Entführung ausgegangen. Zeitweise standen auch die Eltern selbst unter Verdacht. Die Nachricht über die neuen Erkenntnisse sorgte für viel Aufsehen, vor allem in Großbritannien und Portugal. Britische Zeitungen schrieben von einem „Durchbruch”. Ob es das wirklich ist, bleibt abzuwarten.
Nach Angaben des BKA lebte der Beschuldigte zwischen 1995 und 2007 regelmäßig an der Algarve, darunter einige Jahre in einem Haus zwischen Lagos und Praia da Luz. „Nach hier vorliegenden Erkenntnissen ging er in dieser Zeit im Raum Lagos mehreren Gelegenheitsjobs, unter anderem in der Gastronomie, nach”, teilte das BKA mit. Immer wieder pendelte er zwischen Deutschland und Portugal, wurde in beiden Länder mehrmals straffällig.
Zuletzt verurteilte ihn das Landgericht Braunschweig am 16. Dezember 2019 wegen schwerer Vergewaltigung und unter Einbeziehung früherer Strafen zu sieben Jahren Haft. Er hatte 2005, rund eineinhalb Jahre vor dem Verschwinden Maddies, in Praia da Luz eine damals 72-jährige Amerikanerin vergewaltigt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die Revision liegt beim Bundesgerichtshof.
Das Urteil war nicht das einzige. In Deutschland und in Portugal beschäftigte er Polizei, Staatsanwälte und Gerichte mit kleinen Delikten und schweren Verbrechen. Im September 2017 wurde er wegen Besitzes von Kinderpornografie und sexuellen Missbrauchs eines Kindes vom Landgericht Braunschweig verurteilt. Der Mann habe eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten erhalten, die er bereits verbüßt habe, bestätigte Thomas Klinge, Sprecher der für Kinder- und Jugendpornografie zuständigen Staatsanwaltschaft Hannover.
Laut „Spiegel” weist das Strafregister des Mannes insgesamt 17 Einträge auf. Schon vor rund 27 Jahren, im Oktober 1993, verhängte das Amtsgerichts Würzburg eine zweijährige Jugendstrafe gegen den damals noch Minderjährigen wegen „sexuellen Missbrauches eines Kindes, versuchten sexuellen Missbrauchs eines Kindes sowie Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind”, wie aus Gerichtsunterlagen hervorgeht.
Der Fall Maddie war am Mittwochabend - wie schon früher - Thema in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY... ungelöst”. Auf die Spur des nun Verdächtigen kamen die Ermittler nach eigenen Angaben durch einen Hinweis nach der ZDF-Sendung zum Fall im Oktober 2013. „Die damaligen Informationen reichten nicht für Ermittlungen aus und schon gar nicht für eine Festnahme”, sagte BKA-Ermittler Christian Hoppe in der Sendung. Auch ein weiterer Hinweis auf den Tatverdächtigen im Jahr 2017 habe noch nicht gereicht.
„Und die Informationen, die wir im Rahmen unserer Ermittlungen gewinnen können, führen uns immer mehr zu der Überzeugung, dass es sich bei dem Tatverdächtigen um den Täter handeln könnte”, fügte der leitende Kriminaldirektor beim BKA hinzu. Bei der Behörde wurde ein Hinweisportal BKA eingerichtet und für Hinweise zur Aufklärung der Tat eine Belohnung von 10.000 Euro ausgesetzt.
Der 43-Jährige hat eine aktuelle Haftstrafe fast zu zwei Dritteln verbüßt und stand damit kurz vor der Entscheidung über eine mögliche Freilassung auf Bewährung. Das geht aus zwei Beschlüssen des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 21. April hervor (Az. 6 StR 41/20). Derzeit sitzt der Mann in Kiel eine alte Haftstrafe ab, die das Amtsgericht Niebüll bereits 2011 gegen ihn verhängt hatte. Dabei ging es um Handel mit Betäubungsmitteln. Parallel ist wegen der Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn Untersuchungshaft angeordnet.
Die „Braunschweiger Zeitung” schrieb am Donnerstag im Rückblick auf den Gerichtsprozess, dass der in einem schlichten grauen Shirt und etwas zu großer Jeans gekleidete Mann intelligent gewirkt habe. Deutsche Zeugen aus portugiesischer Zeit hätten ihn als Glücksritter beschrieben, „der versucht hat, was auszustrahlen, aber auch nicht auf großen Zampano gemacht hat”.
Eine frühere Nachbarin aus Portugal beschrieb den Verdächtigen als aggressiv. „Er war immer ein bisschen wütend, ist die Straße schnell hoch und runter gefahren und eines Tages, so um 2006, verschwand er ohne ein Wort”, berichtete die Frau dem britischen Sender Sky News.
Wie Scotland Yard am Mittwochabend mitteilte, trug der Mann zur Tatzeit kurzes, blondes Haar und war etwa 1,80 Meter groß. Besonderes Augenmerk lenkten die britischen Ermittler auf zwei Fahrzeuge und zwei Telefonnummern, die der Verdächtige benutzt haben soll. Es geht um einen Caravan vom Typ VW T3 Westfalia mit portugiesischem Nummernschild, in dem der Mann zeitweise gewohnt haben soll, und einen Jaguar, Model XJR 6, mit einem deutschen Kennzeichen. Am Tag nach Maddies Verschwinden sei der Jaguar auf einen neuen Halter umgemeldet worden.
An dem Abend, als Maddie verschwand, soll der Verdächtige einen Anruf erhalten haben unter der Nummer +351 912 730 680 mit portugiesischer Ländervorwahl. Der Anruf wurde in der Region um Praia de Luz entgegengenommen. „Ermittler glauben, dass die Person, die diesen Anruf getätigt hat, ein höchst wichtiger Zeuge ist, und rufen sie dazu auf, in Kontakt zu treten”, hieß es in der Scotland-Yard-Mitteilung. Die Nummer des Anrufers laute +351 916 510 683.
Madeleines Eltern hatten sich mit teils emotionalen Aufrufen immer wieder an die Öffentlichkeit gewandt, um Informationen über den Verbleib ihrer Tochter zu erhalten. „Alles, was wir je wollten, ist sie zu finden, die Wahrheit ans Licht zu bringen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen”, heißt es in einem Statement der Eltern in der Scotland-Yard-Mitteilung. (dpa)