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Debatte nach Tod der Ärztin Lisa-Marie KellermayrTun wir genug gegen Hass im Netz?

Lesezeit 4 Minuten

Tausende Menschen zündeten in Wien Kerzen für Lisa-Maria Kellermayr an.

  1. Die Ärztin Lisa-Marie Kellermayr nahm sich offenbar das Leben, weil sie monatelang massiv von Impfgegnern bedroht wurde.
  2. Der Fall wirkt wie ein mahnendes Beispiel. Wer hat versagt?

Wien/Berlin – Bei manchen Menschen fließen Tränen. Die allermeisten halten still ihr leuchtendes Smartphone oder eine Kerze in die Höhe. Einige Tausend Menschen verwandeln den Platz vor dem Wiener Stephansdom in ein Lichtermeer, um der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr zu gedenken. Die Medizinerin aus Seewalchen in Österreich hatte sich öffentlich im Kampf gegen Corona engagiert und war deshalb im Internet zum Hass-Objekt der Impfgegner geworden. Daran – das legen Abschiedsbriefe nahe – ist sie wohl zerbrochen.

Der Suizid der 36-Jährigen vor einer Woche hat die Debatte über Hass im Netz neu angefacht. Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen nahm das Drama zum Anlass einer Mahnung. „Beenden wir dieses Einschüchtern und Angst machen“, schrieb er auf Twitter.

Forderungen nach mehr Schutz

Auch Politiker und Ärzte in Deutschland zeigen sich über Kellermayrs Suizid bestürzt. „Jeden Tag wird in den sozialen Netzwerken zu Gewalt gegen mich aufgerufen“, sagte etwa Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Leute rufen regelmäßig – teilweise sogar mit Klarnamen – zu meiner Ermordung auf.“ Er werde deswegen besonders gut geschützt. „Die österreichische Kollegin dagegen musste den Schutz selbst bezahlen und konnte sich das nicht mehr leisten.“ Er verachte und verabscheue die Hetzer im Netz, die diese Frau in den Tod getrieben hätten, erklärte Lauterbach.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, meinte in der „Welt“, der Tod der Ärztin führe „drastisch vor Augen, wohin die Verrohung des gesellschaftlichen Klimas führen kann“. Auch in Deutschland sinke die Hemmschwelle. Ärzte erhielten Drohbriefe, würden verbal und körperlich angegriffen. „Die Polizei muss angesichts der besorgniserregenden Zunahme digitaler Straftaten zügig handeln“, forderte Jörg Radek, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei. Es fehle aber an Ressourcen, personell wie bei der Ausstattung.

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Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken rief dazu auf, Opfern von psychischer Gewalt beizustehen. Gerade Frauen seien häufig betroffen, sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Im Kampf gegen diese Form der Gewalt müssen wir noch durchsetzungsfähiger werden“, so Esken. Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz forderte in der „Rheinischen Post“ eine bessere Ausstattung der Ermittlungsbehörden. Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz (CSU) sprach sich für mehr Befugnisse im digitalen Raum aus. „Mit der Beschränkung auf das Abhören von Festnetztelefonaten wird man der Lebensrealität im Jahr 2022 nicht gerecht“, kritisierte sie.

Strafverfolgung weiterhin mühsam

Trotz der gesetzlichen Regelungen gegen Hass im Netz auf nationaler und EU-Ebene ist nach Erfahrungen von Experten die Online-Aggression noch nicht annähernd im Griff. Die Beratungsstelle „Zara“ in Wien hat binnen fünf Jahren 8000 Fälle registriert. Lange sei Corona bei den Hass-Postings das Hauptthema gewesen, sagt Sprecher Ramazan Yildiz. Zumindest punktuell stelle er inzwischen einen Unterschied beim Ermittlungseifer der Behörden fest. Aber für die Betroffenen sei das Verfolgen ihrer Verfolger weiterhin oft mühsam. „Vielen ist es zu emotional, finanziell und zeitlich zu aufwändig“, so Yildiz.

Im Fall Kellermayr läuft nach Angaben der Staatsanwaltschaft Wels ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt. Eine Spur führt nach Deutschland, bestätigte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft München II. Ein Mann aus Oberbayern steht demnach im Verdacht, der Medizinerin in Mails mit Folter und Mord gedroht zu haben. Außerdem haben die österreichischen Strafverfolger auch bei der Staatsanwaltschaft Berlin einen Tatverdächtigen angezeigt.

Vorwürfe gegen die Behörden

Die österreichische Polizei wehrt sich derweil gegen Vorwürfe, sie habe zu lax auf die Drohbriefe reagiert, die extreme Gewaltandrohungen enthielten. Bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in Wien ist eine Anzeige eingegangen, in der den Behörden Untätigkeit vorgeworfen wird. Seit November 2021 sei die Ärztin polizeilich beraten worden, heißt es dazu in einer Stellungnahme. „Die Schutzmaßnahmen rund um die Ordination wurden drastisch erhöht. Dabei wurden alle gesetzlich möglichen Maßnahmen ausgeschöpft.“

Die Ärztekammer Oberösterreich erklärte, der Ärztin sei jede Hilfe angeboten worden, zu der man in der Lage gewesen sei. Erst jüngst sei ein Plan besprochen worden, wie das Fortbestehen der Praxis gesichert werden könne. Die hatte Kellermayr vor einigen Wochen geschlossen. Sie fühlte sich nicht genügend von Polizei und Behörden geschützt – und hatte deshalb nach eigenen Angaben selbst rund 100000 Euro für Schutzmaßnahmen ausgegeben. (dpa)