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Bundestagswahl 2021Gregor Gysi will es noch einmal wissen

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Gregor Gysi (Archivbild)

Berlin – Man merkt sofort: Dieser Mann steht unter Strom. Kaum hat Gregor Gysi sein Bundestagsbüro betreten, da sitzt er dem wartenden Gast auch schon gegenüber. Die Fragen bitte, signalisiert er ohne jede Vorrede – und bleibt keine Antworten schuldig. Auch mit 73 Jahren hat der Linken-Politiker nichts an Witz, Schlagfertigkeit und Charme eingebüßt und ist ein gefragter Mann.

Ein Mann mit Kultstatus

Jetzt bewirbt er sich noch einmal für den Bundestag. Gysi ist bei der Wahl am 26. September Direktkandidat im Berliner Wahlkreis Treptow-Köpenick, den er schon mehrfach gewonnen hat, zuletzt 2017. Mit 93,5 Prozent der Stimmen hat man ihn erneut aufgestellt. Er ist ja auch nicht irgendwer, sondern längst ein Mann mit Kultstatus („Roter Adel“), in mancher Hinsicht sogar eine eigene Marke.

Vergangenheit und Gegenwart verweben sich bei ihm auf einzigartige Weise. Die DDR, die Herrschaft der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED), deren Scheitern, die Wende und die deutsch-deutsche Vereinigung bilden den Hintergrund für Gysis Lebensbahn. Immer ist er sozialistischen Zielen treu geblieben: zuerst in der SED, deren letzter Vorsitzender er war, später in der PDS, der „Partei des Demokratischen Sozialismus“, und schließlich als langjähriger Bundestagsfraktionschef der Partei Die Linke. Und noch immer sagt er: „Mein Job ist nicht erledigt.“

Vergleich mit Adenauer

Was, bitte, bleibt zu tun? Wieso tritt er noch einmal an? Gysi beginnt mit einem Witz. „Um die anderen zu animieren, habe ich gesagt: Ich kann aus dem Bundestag erst ausscheiden, wenn wir die Angleichung Ost/West erreicht haben. Ich hoffe, das wirkt auf CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne, dass sie sich beeilen und sagen: Wir wollen Herrn Gysi loswerden, also müssen wir die Angleichung mal schnell hinbekommen.“ Gysi grinst und kommt etwas näher: „Aber natürlich weiß ich, dass ich 73 und nicht Konrad Adenauer bin“ – der in diesem Alter erst Bundeskanzler wurde.

Das Thema West-Ost-Gefälle ist ihm auch nach drei Jahrzehnten deutscher Einheit ein großes Anliegen. Gleiche Löhne und gleiche Renten – das ist es, was er will. Und dann ist da noch eine alte Rechnung offen. „Ich möchte gerne, dass wir über die Fehler bei der Herstellung der deutschen Einheit offen diskutieren. Was mich am meisten störte und immer noch stört, das ist, dass man sich nichts aus der DDR näher angesehen hat.“ Natürlich habe vieles aus der DDR überwunden werden müssen. „Aber einiges hätte man auch übernehmen können – und ich meine nicht das Ampelmännchen und nicht den grünen Abbiegepfeil.“

In der Gleichstellung der Geschlechter zum Beispiel war die DDR schon deutlich weiter als die Bundesrepublik, lautet Gysis Urteil. Er meint: „Wenn man Gutes aus der DDR übernommen hätte, dann hätte es das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen angehoben. Und die Westdeutschen hätten erlebt, dass durch das Hinzukommen des Ostens sich in sechs, sieben, acht Punkten auch ihre Lebensqualität erhöht hätte.“

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Gysi ist jetzt ganz in seinem Element. In der DDR ist er geboren und aufgewachsen, zu DDR-Zeiten wurde er in Ostberlin zum Dr. jur. promoviert, schon deutlich vor der Wende hat er als Rechtsanwalt prominente Mandanten vertreten. Immer wieder hat er später aber auch im Verdacht gestanden, Mitarbeiter des berüchtigten Staatssicherheitsdienstes gewesen zu sein. Stets hat er sich dagegen gewehrt – auch vor Gericht, meist, aber nicht immer mit Erfolg.

So arbeitete Gysi als Anwalt in der DDR

Und wie war das nun in der DDR? Gysi erzählt, wie er Ende der 1970er-Jahre zwei besonders bekannte Regimekritiker verteidigt hat und warum es für ihn wichtig gewesen sei, Mitglied der SED zu sein. „In den politischen Prozessen in der DDR“, so berichtet er, „habe ich festgestellt, dass der juristische Weg kaum Sinn macht. Rudolf Bahro wurde zu acht Jahren verurteilt, auch bei Robert Havemann standen die Dinge fest.

Wenn ich etwas im Interesse meiner Mandanten bewegen wollte, ging das nur über die Parteiführung“, so Gysi. „Ich habe dann eine Amnestie vorgeschlagen, weil das die einzige Chance war, dass Bahro frühzeitig entlassen wird. Und diese Amnestie ist dann auch gekommen.“

Im Fall Havemann ging Gysi in die Berufung und forderte Freispruch – ohne Erfolg. Doch er ließ nicht locker: „Ich habe dann im Nachhinein SED-Vertreter gefragt: Glaubt ihr wirklich, dass das Verfahren der Partei und der DDR genutzt hat? Entsprechende Vermerke wanderten dann wohl bis hin zu Egon Krenz und Erich Honecker. Und plötzlich entschied Honecker, dass alles aufgehoben wird: Kein Hausarrest mehr, keine Durchsuchungen mehr, keine Ordnungsstrafverfahren.“

Sein Fazit: „Meine SED-Mitgliedschaft entsprach zunächst meiner Grundüberzeugung, die sich wiederum aus meinem Elternhaus, dem Antifaschismus meiner Eltern und anderen Dingen ergab. Aber zweitens machte die Parteimitgliedschaft mich fähiger, Kompromisse nach solchen Strafverfahren zu erreichen, um die Leute herauszubekommen. Insofern waren Havemann und Bahro mit mir auch sehr zufrieden.“

Auch heute noch als Anwalt tätig

Auch heute noch arbeitet Gysi als Anwalt. Aktuell verteidigt er eine 32-Jährige, die 2014 mit ihrem Mann nach Syrien gegangen ist und nun als mutmaßliche Unterstützerin des Islamischen Staates in Frankfurt vor Gericht steht. Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt wirft der Frau vor, ihren für den IS kämpfenden Mann unterstützt zu haben, in Syrien für den IS zu kämpfen. Während er an der Front gewesen sei, habe sie ihm, „wie im IS für die Ehefrau eines Kämpfers vorgesehen“, den Haushalt geführt und ihn bei Verletzungen gepflegt.

Gysi sagt, die junge Frau komme aus extrem schwierigen und ungünstigen familiären Verhältnissen. „Sie hat sich in einen Mann verliebt, und beide haben sich gegenseitig religiös hochgeschaukelt. Und dann ist sie mit ihm nach Syrien gegangen und beim Islamischen Staat gelandet. Das war zweifellos ihr größter Fehler im Leben. Sie ist natürlich keine Kämpferin, hat keinen Schuss auf Menschen abgegeben, sie hatte auch keine Sklavin und hat auch an keiner einzigen Kampfhandlung teilgenommen.“

Schon bald bereute die Frau, nach Syrien gegangen zu sein, so ihr Verteidiger Gysi: „Das war Anfang 2016. Dann ist sie unter Einsatz ihres Lebens geflohen. Die Rückkehr nach Deutschland gelang ihr erst 2020. Für mich ausschlaggebend: Sie hat für ihren Fehler schon schwer gebüßt. Ich will nur, dass die Frau eine zweite Chance in ihrem Leben bekommt.“

Dass Gysi so unter Dampf steht, liegt auch daran, dass er als Abgeordneter zuletzt wieder eine wichtige Funktion übernommen hat. Als außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion betont er, seine Partei halte zwar Militäreinsätze für falsch, habe aber nie den Austritt Deutschlands aus der Nato gefordert. Als Mitglied könne Deutschland zum „Hauptvermittler“ in Konflikten werden.

„Ich bin schon gesellig“

„Außenpolitisch“, sagt Gysi im Gespräch mit unserer Redaktion, „brauchen wir einen Rückzug aus dem Militärischen und eine Hinwendung zu Politik und Diplomatie. Wozu müssen wir denn zwei Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes für die Rüstung ausgeben? Das wären gut 70 Milliarden Euro. Von einer größeren Steuerverschwendung habe ich noch nie gehört.“

Bleiben die Berufe Nummer drei und vier. Neben Politiker und Anwalt ist Gysi aber auch Moderator – in so vielversprechenden Formaten wie „Missverstehen Sie mich richtig“ und an den unterschiedlichsten Orten. „Das war zuletzt ruhiger“, sagt der 73-Jährige mit Blick auf die Corona-Pandemie. „Das geht jetzt aber wieder voll los im Deutschen Theater, im Kabarett-Theater Distel und im brandenburgischen Kloster Neuzelle – in den Räumen eines Zisterzienserklosters.“ Und schließlich ist Gysi – viertens – auch noch Buchautor. Das sei „auch sehr anstrengend“, sagt er. Und wo bleibt da das Privatleben?

Machen so viel Politik und Arbeit nicht einsam, Herr Gysi? „Nein, nein. Ich bin schon eher gesellig“, entgegnet er. Wegen seiner vier Berufe sei seine Zeit allerdings begrenzt. Spricht’s und unterzeichnet schon Papiere, während sein Gast gerade erst Papiere, Handys und Kamera verstaut hat und sich in der Tür noch einmal umdreht.