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Deutschland vor der WahlRückblick auf das Jahr 2005 – Als die Ära Merkel begann

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22. November 2005: Der scheidende Bundeskanzler Gerhard Schröder gratuliert seiner Nachfolgerin Angela Merkel zur Wahl.

Köln – Woran erinnern Sie sich, wenn sie an 2005 denken? Im Jahr, als Angela Merkel zum ersten Mal Bundeskanzlerin wurde, war unser Autor frisch gebackener Vater. Und wie ging es Deutschland damals?

Die „Geißel Gottes“ hieß 2005 nicht Corona, sondern Aids – und betraf längst nicht mehr nur Männer jener Minderheit, für die der Bundestag mehr als ein Jahrzehnt später die Ehe für alle durchwinken sollte.

Es war das Jahr, in dem der VW-Betriebsratschef Klaus Volkert und Personalvorstand Peter Hartz unter dem Druck von Korruptionsvorwürfen zurücktraten, in dem nach Jahrhunderten mit Kardinal Ratzinger mal endlich wieder ein Deutscher Papst wurde – und der Deutsche Bundestag mit Angela Merkel erstmals eine Frau an die Spitze der Regierung wählte.

„Ich will Deutschland dienen“, sagte die damals 51-Jährige bei ihrer Vereidigung am 22. November 2005. Wenig deutete darauf hin, dass sie das anderthalb Jahrzehnte lang tun würde. „Ich wünsche ihr viel Glück“, sagte der damalige Fraktionschef der Grünen im Bundestag, „aber ich wünsche uns, dass es nicht so lange geht.“

Hausmann in Elternzeit

Mit welchem persönlichen Ereignis verbinden Sie diesen Dienstag? Ich werde wohl Wäsche gemacht, den Staubsauger geschoben oder irgendwas mit Bauklötzen aufgebaut haben. Alternativ werde ich völlig übermüdet auf der Couch gelegen haben, weil der Nachwuchs mal wieder um 5.30 Uhr die Nacht für beendet erklärt hatte. Ich war Hausmann damals, seit sechs Monaten in Elternzeit.

Meine Tochter Lea konnte noch kaum die Farben von Wäscheklammern unterscheiden und war lange nicht so wortgewandt wie die Familienministerin, die im ersten Kabinett Merkel die Lohnersatzleistung für Mütter und Väter gegen viel innerparteilichen Widerstand auf den Weg bringen sollte.

„Das Elterngeld gibt jungen Müttern und Vätern einen Schonraum, sich ohne finanziellen Druck Zeit für ihr Neugeborenes zu nehmen“, sollte Ministerin Ursula von der Leyen später sagen: „Es steht eins zu null für Familien!“

Paradigmenwechsel in der Familienpolitik

Dem schlafenden Töchterchen einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn zu drücken, alle zwei Tage den Müll zu entsorgen und anschließend laut über Abgespanntheit zu klagen – damit kamen Väter von 2005 an immer weniger durch. Der Paradigmenwechsel in der Familienpolitik weg vom Schröder’schen „Gedöns“ hatte wohl auch mit der Wahl Merkels zu tun und dem Modernisierungsschub, den sie ihrer Partei verordnete.

„Wir können und wollen nicht zurück zum Familien- und Frauenbild der 50er-Jahre“, hatte Merkel als Kanzlerkandidatin anlässlich einer Festveranstaltung zum 60. Geburtstag der CDU gemahnt – und einen „Wechsel zu neuer Freiheit“ gefordert. 16 Jahre liegt das zurück. Eine Ewigkeit.

„Es geht darum, unser Land unter den besonderen Bedingungen der Überwindung der deutschen Teilung auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts auszurichten“, hatte SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder zuvor gesagt. Mit der Agenda 2010 hätten die Sozialdemokraten dazu entscheidende Weichen gestellt. Und die Partei bekam die Quittung dafür.

Schröder war ein schlechter Verlierer

Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verlor die SPD krachend. Nun sprach sich der Kanzler für Neuwahlen im Bund aus: „Für die aus meiner Sicht notwendige Fortsetzung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen für unabdingbar.“ Die sollte Schröder im Herbst dann aber nicht mehr bekommen. In der „Elefantenrunde“ nach der Wahl erwies sich der scheidende Regierungschef als schlechter Verlierer.

Tatsächlich hatte Deutschland 2005 neue Impulse nötig, nicht nur gesellschaftlicher Art, auch wirtschaftlich. Das Land steckte im Strukturwandel. 71,9 Prozent aller Jobs waren bereits im Handel, Gastgewerbe, Verkehr und den übrigen Dienstleistungsbranchen angesiedelt; anderthalb Jahrzehnte zuvor lag dieser Anteil noch bei 59,5 Prozent. Am 1. März gab die Bundesagentur für Arbeit einen neuen deutschen Nachkriegsrekord bei den Arbeitslosenzahlen bekannt: 5,216 Millionen Menschen waren ohne Job.

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Nur dank der Außenwirtschaft stieg das Bruttoinlandsprodukt 2005 überhaupt um 0,9 Prozent. Deutschland machte ordentlich Schulden, die staatliche Defizitquote lag mit 3,5 Prozent des BIP das vierte Jahr in Folge über der erlaubten Grenze von drei Prozent. Bund, Länder und Kommunen gaben 78 Milliarden Euro mehr aus, als sie einnahmen.

Und was geschah sonst noch im Jahr 2005 in Deutschland? Zum 50-jährigen Bestehen der Bundeswehr gab es erstmals einen großen Zapfenstreich vor dem Reichstagsgebäude. Ein Dokumentationszentrum und 2711 Betonstelen erinnerten fortan in Berlin an die sechs Millionen von den Nazis ermordeten Juden. Und mit Harald Juhnke starb einer der ganz großen deutschen Entertainer.

Geburtenrate sinkt

Immer mehr Frauen in Deutschland entschieden sich bewusst gegen Kinder – nicht, weil sie sich keine wünschten, sondern weil sie glaubten, Kinder nicht mit ihrem Berufsleben vereinbaren zu können. Die Geburtenrate lag 2005 bei schlappen 1,34 Prozent; gleichzeitig lebten in den Industriestaaten immer mehr Kinder in Armut – allein in Deutschland war jedes zehnte Kind davon betroffen.

Familiengründung galt in wirtschaftlich schwierigen Zeiten als Risiko. Immer mehr Paare entschieden sich in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende deshalb gegen Nachwuchs. Genau dem sollte das vom ersten Kabinett Merkel auf den Weg gebrachte Elterngeld entgegenwirken.

Übrigens: Meine Tochter Lea wird in diesem Jahr volljährig. Und am 26. September wird sie eine Erstwählerin sein. Sie kann also mit darüber entscheiden, wer Angela Merkel im Kanzleramt folgt. Wie wir uns an sie oder ihn wohl in 16 Jahren erinnern werden?