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ATACMS als „Wendepunkt“?Moskau geht extrem seltenen Schritt – und droht mit „Vergeltung“

Lesezeit 4 Minuten
Kremlchef Wladimir Putin reagierte mit dem Einsatz einer Mittelstreckenrakete und einer erbosten TV-Ansprache auf den Einsatz von ATACMS-Raketen gegen Ziele in Russland. (Archivbild)

Kremlchef Wladimir Putin reagierte mit dem Einsatz einer Mittelstreckenrakete und einer erbosten TV-Ansprache auf den Einsatz von ATACMS-Raketen gegen Ziele in Russland. (Archivbild)

Der Kreml ergreift eine ungewöhnliche Maßnahme – und droht. Kiew sieht derweil in den ersten ATACMS-Angriffen einen „Wendepunkt“.

Seltenes Eingeständnis aus Moskau: Das ukrainische Militär hat nach russischen Angaben mit amerikanischen ATACMS-Raketen eine S-400-Flugabwehrstellung und einen Flugplatz in der Region Kursk angegriffen. Das russische Verteidigungsministerium räumte auf seinem Telegram-Kanal ein, dass mindestens drei der weitreichenden Raketen bei den Angriffen nicht abgefangen werden konnten. Das russische Militär bereite eine „Vergeltung“ für die Raketenschläge vor, hieß es weiter.

Die erste Attacke ist demnach am Samstag mit fünf ATACMS-Raketen auf eine Position des Flugabwehrkomplexes S-400 durchgeführt worden. Nur drei Raketen seien zerstört worden, zwei hätten ihr Ziel erreicht und infolgedessen Personal verletzt und eine Radarstation beschädigt, teilte das Ministerium mit. Die S-400-Systeme gelten als modernstes und teuerstes russisches Luftabwehrsystem.

Extrem ungewöhnlicher Schritt: Kreml räumt ATACMS-Treffer ein

Bei einem weiteren Angriff auf einen Flugplatz seien sieben der acht ATACMS-Raketen abgeschossen worden. Zwei Soldaten wurden demnach verletzt und Schaden an der Infrastruktur verursacht. Bei russischen Kriegsbloggern war unterdessen von zwei Treffern die Rede, es kursierten unbestätigte Videos, die Brandherde auf dem Flugplatz zeigten. In einer Aufnahme waren mehrere Raketen deutlich hörbar.

Üblicherweise äußert sich der Kreml nicht zu erfolgreichen ukrainischen Attacken oder behauptet stets, dass alle gegnerischen Flugkörper von der eigenen Luftabwehr abgeschossen worden seien. Es ist extrem ungewöhnlich, dass Moskau Treffer an eigenen Militärobjekten durch ukrainische Angriffe wie jetzt einräumt.

Ukraine setzt ATACMS und Storm Shadow in Russland ein

Zuvor hatte es unbestätigte Medienberichte über einen Angriff Kiews mit ATACMS-Raketen auf einen Militärflugplatz in der Nähe von Kursk gegeben. Die USA hatten der Ukraine kürzlich die Genehmigung zum Abfeuern der ATACMS-Raketen auch auf Ziele auf russischem Staatsgebiet erteilt. Auch aus Großbritannien und Frankreich gab es grünes Licht für einen Einsatz von „Storm Shadow“- und „Scalp“-Marschflugkörpern.

Aus Deutschland erhofft Kiew sich weiterhin eine Lieferung des noch weiter reichenden „Taurus“-Marschflugkörpers. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnt diesen Schritt jedoch ab. Friedrich Merz und Robert Habeck, Kanzlerkandidaten von Union und Grünen, zeigen sich derweil offen für eine Lieferung.

Russland reagiert mit „Oreschnik“ und Atomdrohungen

Moskau reagierte schließlich mit dem erstmaligen Einsatz einer Mittelstreckenrakete. Die „Oreschnik“ wurde von Russland auf die Millionenstadt Dnipro abgefeuert, trug dabei jedoch keine Atomsprengköpfe. Zuvor hatte der russische Außenminister Sergej Lawrow mit Blick auf die Angriffe mit westlichen Raketen eine „entsprechende Antwort“ angekündigt.

Moskau verwies zuletzt immer wieder auf die aktualisierte Atomdoktrin des Landes, demnach könnte der Kreml auf die Angriffe mit ATACMS-Raketen oder „Storm Shadow“-Marschflugkörpern gegen Ziele in Russland mit dem Einsatz von Atomwaffen reagieren. Auch nach dem „Oreschnik“-Angriff kamen entsprechende Drohungen aus Moskau.

Kriegskurs im Kreml: Kein „Einfrieren“, keine Gespräche

Auch in dieser Woche unterstreichen russische Beamte den andauernden Kriegskurs Moskaus. So schloss Sergej Naryschkin, Direktor des russischen Auslandsgeheimdienst SWR, ein „Einfrieren“ der derzeitigen Frontlinie sowie die Schaffung einer entmilitarisierten Zone, wie immer wieder vorgeschlagen, „kategorisch“ aus. Der einzige Weg zum Frieden sei die „Beseitigung“ der Gründe, die Russland zu seiner Invasion veranlasst hätten, erklärte der Geheimdienstchef weiter.

Die Worte Naryschkins seien „ein Beweis dafür, dass Russland weiterhin kompromisslos die vollständige Kapitulation der Ukraine fordert“, schrieben die Analysten des amerikanischen Instituts für Kriegsstudien in ihrem aktuellen Lagebericht zu den klaren Worten aus Moskau. Der Kreml wolle „mehr Gebiete in der Ukraine an sich reißen“ und sei nicht bereit, sich auf Verhandlungen einzulassen, „ganz gleich, wer solche Gespräche vermittelt“, so das klare Fazit der US-Analysten.

Ukraine: Auswirkungen von ATACMS bereits spürbar

Während aus dem Kreml weiterhin vor allem bedrohliche Botschaften kommen, ist in der Ukraine von ersten Auswirkungen der nun erlaubten Raketenschläge gegen Ziele in Russland die Rede. „Aufgrund der Erlaubnis für den Einsatz von Präzisionswaffen ist der Anteil der Flugzeuge, die Russland für Angriffe mit gelenkten Bomben einsetzt, derzeit deutlich zurückgegangen“, zitierte die Nachrichtenagentur Unian den ukrainischen Kommandeur Jurij Fedorenko.

Ein Foto des russischen Verteidigungsministeriums soll Trümmer einer ATACMS-Rakete auf dem Gelände des Flughafens Kursk-Wostotschny in Russland zeigen.

Ein Foto des russischen Verteidigungsministeriums soll Trümmer einer ATACMS-Rakete auf dem Gelände des Flughafens Kursk-Wostotschny in Russland zeigen.

Die russische Armee sei nun gezwungen, insbesondere die eigenen Munitionslager weiter zu verstreuen als zuvor. „Das erschwert die Logistik, was wiederum mehr Zeit in Anspruch nimmt. Je länger der Nachschub dauert, desto weniger Schüsse können sie abgeben“, erklärte Fedorenko.

ATACMS-Raketen: „Wendepunkt“ zugunsten der Ukraine?

Die Präzisionswaffen der westlichen Partner seien „unverzichtbar“ – und könnten einen „Wendepunkt in den Kampfhandlungen“ zugunsten der Ukraine herbeiführen, so der Kommandeur. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass die Waffen weiterhin in ausreichender Menge vom Westen an die Ukraine geliefert werden.

Zuletzt ist die ukrainische Armee immer mehr unter Druck geraten. In Kursk, wo die Ukraine seit dem Sommer russisches Territorium besetzt hält, wird eine russische Gegenoffensive erwartet. Bis zu 60.000 Soldaten soll der Kreml dafür in dem Gebiet versammelt haben.

Noch dramatischer scheint die Lage unterdessen im Donbass nahe Pokrowsk zu sein. Dort werden in den letzten Wochen größere Geländegewinne der russischen Armee gemeldet. In der Region Donezk rückte Russland zuletzt so schnell vor wie seit Kriegsbeginn im Februar 2022 nicht mehr. (mit dpa)