- Am Sonntag dürfen 60,4 Millionen Menschen einen neuen Bundestag wählen.
- Parteienforscher Oskar Niedermayer erwartet herausfordernde Koalitionsverhandlungen.
Professor Niedermayer, ist die Zeit der Volksparteien vorbei?
Man soll niemals nie sagen. Aber es spricht doch einiges dafür. Dazu haben mehrere langfristige Entwicklungen geführt – etwa Veränderungen in der Erwerbsstruktur und die Individualisierung in der Gesellschaft. Beides hat die Stammwählerschaft der Volksparteien schrumpfen lassen, zudem sind die stützenden sozialen Milieus erodiert. Das bedeutet, dass es bei Wahlen nun sehr viel stärker auf kurzfristige Faktoren ankommt – nämlich auf das inhaltliche und personelle Angebot der Parteien. Das führt dazu, dass ein aus Wählersicht optimales Angebot den Trend drehen kann.
In den Nachbarländern ist ein fragmentiertes Parteiensystem normal. Welche Vor- und Nachteile beobachten Sie da?
Wenn die Parteienlandschaft immer fragmentierter ist, wird die Regierungsbildung schwieriger. Mit großer Wahrscheinlichkeit läuft es bei uns auf eine Dreier-Koalition hinaus. Die meisten dieser Koalitionen sind solche über politische Lagergrenzen hinweg. Das heißt, wir müssen uns auf längere und schwierigere Regierungsbildungen einstellen und möglicherweise auf eine geringere Stabilität der Koalition. Da kann eine Regierung schneller mal über eine Krise stürzen.
Sehen Sie denn auch Vorteile?
Man kann schon sagen, dass ein fragmentiertes Parteiensystem die heutige Gesellschaft besser abbildet. Aber es geht bei den großen Herausforderungen eben nicht nur um die Repräsentation unterschiedlicher Interessen, sondern vor allem um deren Aggregation, die dann zu einem politischen Kompromiss und Handlungsauftrag führen soll.
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Während der gesamten Legislatur lag die SPD in den Umfragen hinter der Union. Warum hat sich das geändert?
In den Umfragen kann man deutlich nachvollziehen, dass das „Lach-Gate“ von Armin Laschet und die Anfangsfehler von Annalena Baerbock dramatische Auswirkungen auf die Beliebtheitswerte der beiden hatten. Analog ging es mit den Parteien bergab. Olaf Scholz dagegen ist immer stärker in die Rolle des natürlichen Nachfolgers von Angela Merkel gerückt – durch staatsmännisches Auftreten, die Betonung seiner Regierungserfahrung. Dazu kommt, dass Scholz immer auf den Markenkern der SPD abgehoben hat, nämlich soziale Gerechtigkeit.
Welche Folgen hatte die Pandemie für den Wahlkampf?
Die hatte eine große Wirkung auf die Ausgangssituation. Vor Corona war die Union in den Umfragen nicht so gut. Dann kam Corona und die Stunde der Exekutive. Die zentralen Figuren, nämlich Spahn, Merkel und Söder, haben sich in den Augen der Bevölkerung als Krisenmanager bewährt und ihre Werte sind gestiegen. Grundsätzlich haben die Menschen die Kompetenz zur Krisenbewältigung in der Anfangszeit ganz klar der Union zugeschrieben. Aber jetzt, zum Ende des Wahlkampfes, gehen die Inzidenzen zurück, die Pandemie ist nicht mehr das beherrschende Thema. Und die Problemlösungskompetenz wird nun nicht mehr einseitig einer Partei zugesprochen.