„Nie gab es mehr zu tun“, lautet ein Wahlkampfslogan der FDP. In der Tat: Vor der nächsten Bundesregierung liegen gewaltige Aufgaben. Aber was muss am dringendsten angepackt werden? Und warum? Die To-do-Liste für den nächsten Kanzler.
Klimaschutz
Wird die Erderwärmung nicht auf 1,5, höchstens zwei Grad begrenzt, droht der Klimawandel außer Kontrolle zu geraten. Der Ausstoß von Treibhausgasen ist dafür noch viel zu hoch. Das liegt auch am wegfallenden Atomstrom, weil der durch Kohle- und Gaskraftwerke ersetzt werden muss, denn es fehlt an grünem Strom. Der Ausbau von Windkraft und Photovoltaik ist die drängendste Aufgabe. Ob das schnell genug geht, um den gigantischen Bedarf der Industrie, aber auch für die Elektromobilität zu decken, ist die entscheidende Frage.
Die CO2 -Bepreisung macht quasi alles teurer. Weil das Haushalte mit knappem Einkommen und in ländlichen Regionen besonders trifft, braucht es einen sozialen Ausgleich. Hinzu kommt, dass nationale Auflagen die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen hart treffen würden, es braucht auch hier eine massive Unterstützung durch den Staat.
Aber selbst wenn Deutschland bis 2045 klimaneutral werden würde, hilft das dem Weltklima kaum. Die nächste Regierung muss also zugleich den globalen Kampf gegen die Erderwärmung voranbringen. Weil Deutschland zugleich aus Kohle und Atomstrom aussteigt, ist der Innovationsdruck hierzulande besonders hoch. Darin könnte eine Chance liegen, Vorreiter bei neuen Technologien zu werden.
Marode Staatsfinanzen
Der Blick in die Staatskasse wird nach der Wahl für jede neue Regierungskoalition ernüchternd ausfallen. Der deutsche Weg, sich für die Rettung von Arbeitsplätzen und Unternehmen in der Corona-Pandemie hoch zu verschulden, zeigt zwar positive Wirkung, hat aber seinen Preis. Vor allem der Bund, aber auch Länder und Gemeinden stecken tief in den Miesen. 2019 lag die Schuldenquote noch unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in diesem Jahr liegt sie bei etwa 73 Prozent. Das ist zwar immer noch unter dem Wert von über 80 Prozent nach der Weltfinanzkrise 2010, längerfristig aber nicht gut für die Solidität.
Gleichzeitig steht das Land vor riesigen finanziellen Herausforderungen: Die Investitionen für die Einhaltung der Klimaziele dürften höher ausfallen als die Kosten der deutschen Einheit. Experten sehen einen Investitionsbedarf für die nächsten zehn Jahre in Höhe von 450 Milliarden Euro. Im Grundgesetz verankert ist aber die Schuldenbremse, die während der Pandemie ausgesetzt war, ab 2023 aber eigentlich wieder gilt und nur eine Neuverschuldung in geringem Umfang ermöglicht. Um seine künftigen Aufgaben zu schultern, muss der Staat also entweder mehr einnehmen oder Ausgaben streichen oder weiter Schulden machen. Alles nicht sonderlich beliebt – und jeweils nicht ohne Folgen.
Wirtschaft und Arbeitsplätze
Koste es, was es wolle – im Duo mit Bundesfinanzminister Olaf Scholz hatte Wirtschaftsminister Peter Altmaier zu Beginn der Corona-Pandemie versprochen, alles zu tun, um jedes Unternehmen und jeden Arbeitsplatz zu retten. Trotz viel Kritik an zu bürokratischen und langsam fließenden Hilfen ist Deutschland nach dem Urteil der meisten Experten im Großen und Ganzen mit einem blauen Auge davongekommen. Dass die Hoffnung sich erfüllt, durch starkes Wachstum sogar „mit Wumms“ aus der Krise zu kommen, ist aber nicht ausgemacht.
Die nächste Bundesregierung wird aber nicht nur mit den Nachwehen der Pandemie zu kämpfen haben, sondern die Weichen dafür stellen müssen, dass Deutschland wettbewerbsfähig bleibt. Hohe Steuern und viel Bürokratie wirken nicht gerade als Lockmittel für Kreative und Investoren.
Gleichzeitig macht der Fachkräftemangel dem Mittelstand heute schon zu schaffen – und er wird wegen der älter werdenden Gesellschaft gravierender werden. Das Medien-Startup „The Pioneer“ hat gerade dramatische Zahlen zusammengetragen: Schon heute fehlen demnach im Speditionsgewerbe rund 80000 Fahrer, auf 100 offene Stellen in der Pflege kommen 33 Bewerber. Allein in den Handwerksberufen Fliesenleger, Elektriker und Schlosser fehlen 65000 Fachkräfte. Die nächste Bundesregierung wird sich etwas einfallen lassen müssen, um Deutschland für qualifizierte Zuwanderer attraktiv zu machen. Sonst steht der Wohlstand auf dem Spiel.
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Wenn immer mehr Menschen in Rente gehen, aber immer weniger einzahlen, geht der Generationenvertrag nicht mehr auf. Die Folge: Der Steuerzahler muss aushelfen – mit inzwischen 100 Milliarden Euro Zuschuss jährlich. Um die gesetzliche Rente noch zu finanzieren, müsste das Renteneintrittsalter steigen – oder die Beiträge. Für eine große Reform fehlte den vergangenen Regierungen der Mut.
Digitalisierung
Elf Prozent der bundesdeutschen Fläche sind schlecht mit Mobilfunk versorgt. Nur 5,4 Prozent der stationären Internetanschlüsse hängen am schnellen Glasfasernetz. Im OECD-Vergleich liegt Deutschland auf dem fünftletzten Platz, in Sachen digitaler Wettbewerbsfähigkeit auf Platz 36, immerhin vor Albanien.
Wie es beim Netzausbau schneller gehen könnte, darüber wird seit Jahren gestritten: Sollen es die Kommunen in die Hand nehmen, sollen die Privatanbieter zu mehr Tempo verpflichtet oder mit Anreizen gelockt werden? Allerdings wird viel bereitstehendes Geld bislang nicht abgerufen.
Einigkeit herrscht nur darüber, dass Deutschland aufholen muss. Das gilt auch für die Digitalisierung von Verwaltung und Bildungseinrichtungen, wo sich im Corona-Lockdown gravierende Versäumnisse offenbart haben. Ob Amtsschimmel, Datenschutzauflagen oder heilloses Kompetenzgerangel zwischen Bund, Ländern und Kommunen: Überall hinkt Deutschland dem europäischen Standard hinterher.
Auch die Wirtschaft braucht einen Digitalisierungsschub, um gegenüber China und den USA nicht noch weiter ins Hintertreffen zu geraten. Zwar hat die scheidende Bundesregierung vieles angestoßen, sich aber nach Experten-Meinung auch bös verzettelt. Digital-Staatsministerin Dorothea Bär fehlte es an Geld, Personal, Entscheidungsmacht und klaren Zuständigkeiten. Union und FDP wollen daher ein Digitalministerium schaffen. Die SPD fürchtet dagegen, der Aufbau neuer Strukturen koste nur unnötig Zeit. Wichtig wäre eine Digitalstrategie aus einem Guss mit klaren Prioritäten, die dann auch umgesetzt werden.
Gesundheit und Pflege
Das deutsche Gesundheitssystem hat zwar in der Corona-Pandemie seine international herausragende Leistungsfähigkeit gezeigt. Zugleich verschlingt das System aber Milliardenkosten. Ohne Steuerzuschüsse müssten die Kassenbeiträge bald deutlich steigen, um die Löcher zu stopfen, oder die Leistungen müssten gekürzt werden.
SPD, Linkspartei und Grüne wollen das Problem durch eine Bürgerversicherung anpacken, in die alle (auch Angestellte und Selbstständige) einzahlen müssten. Zu den schärfsten Kritikern gehört ausgerechnet der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen: „Eine starre Einheitsversicherung für alle und jeden ist eine Idee aus der sozialistischen Mottenkiste“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. „Folge wäre dann in der Tat eine Zweiklassengesellschaft, wie wir sie in fast allen Ländern mit Einheitsversicherungen sehen.“
Gassen will die Privaten reformieren. Sie sollen „verbindliche Basisversicherungspflichtenoptionen für jeden Bürger ohne Gesundheitsprüfung wie bei der Haftpflichtversicherung“ anbieten. Was über die Absicherung für schwere oder chronische Erkrankungen, relevante Gesundheitsrisiken oder Verletzungen hinausgehe, sollte „durch Leistungspakete zugekauft werden können“– auch bei den Gesetzlichen. So wäre eine stabile und zugleich solide finanzierte Gesundheitsversorgung zu erreichen.
Die Pflege bleibt ebenfalls eine Großbaustelle, weil es an Fachkräften fehlt und die Heimunterbringung immer teurer wird. Die Pflegereformen der scheidenden Bundesregierung waren längst nicht ausreichend, um die Probleme zu lösen.
Europa, Biden und Putin
Außenpolitik hat im Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. Die Welt um uns herum befindet sich im rasanten Wandel, es gibt Machtverschiebungen. Der chaotische Abzug aus Afghanistan hat Deutschland und seinen europäischen Partnern nachdrücklich vor Augen geführt, wie hilflos sie sind ohne die USA an ihrer Seite.
Der neue US-Präsident Joe Biden (Foto) hat anders als Amtsvorgänger Donald Trump zwar die Hand ausgestreckt und Deutschland wieder als wichtigen Partner bezeichnet, er hat aber auch erkennen lassen, dass die USA künftig nicht mehr wie bisher für Europa die Verantwortung mit übernehmen wollen. Dass Deutschland seine Verpflichtungen gegenüber der Nato einhält und künftig zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgibt, fordern die USA seit Langem ein. Deutschland muss sich positionieren, will das allerdings im Einklang mit seinen europäischen Partnern tun.
Außenpolitisch wird Europa bislang kaum ernst genommen, weil es nicht mit einer Stimme spricht. Ein Vorschlag zur Reform der EU des französischen Präsidenten Emmanuel Macron wartet seit Jahren auf eine Antwort aus Deutschland. Im Raum stehen auch Forderungen, in der EU künftig per Mehrheitsbeschluss zu entscheiden, um rascher und klarer antworten zu können auf internationale Krisen. Das könnte nach dem Austritt der Briten aber auch weitere EU-Staaten verprellen. Auch die deutsche Russland-Politik und das Verhältnis zu China verharren im Ungefähren – und verlangen nach einer Kursbestimmung. (rl/tob)