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Bundestagswahl 2021Wie Lobbyisten und „Influencer“ auch künftig mitregieren

Lesezeit 5 Minuten
Plenarsaal Bundestag

Was im Plenarsaal des Bundestages beschlossen wird, ist zuvor oft von Interessengruppen beeinflusst worden.

  1. Die Bundespolitik verhandelt die Interessen vieler Akteure.
  2. Das kann im Idealfall zum Vorteil aller Beteiligten ausgehen.
  3. Doch bei manchen Themen hatte die Einflussnahme auch in der ablaufenden Wahlperiode kräftig Schlagseite

Wer hat künftig die Macht in Deutschland? Am Sonntag entscheiden die Wähler. Doch nicht allein Abgeordnete und Regierung bestimmen die Geschicke des Landes. Indirekt regieren viele andere mit oder nehmen zumindest Einfluss: Wirtschaftsvertreter, Sozialverbände, Gewerkschaften, Umweltorganisationen, Kirchen und Wissenschaftler zum Beispiel, aber auch neue „Influencer“, die sich im Netz oder auf der Straße einen Namen gemacht haben. Hinzu kommt, dass auch die Form, in der Interessengruppen beteiligt werden, einem Wandel unterliegt. Politikwissenschaftler registrieren deutliche Veränderungen.

Politiker sind keineswegs nur Marionetten

„Die in der Öffentlichkeit verbreitete Vorstellung, Regierungen seien nur Marionetten mächtiger Interessengruppen, trifft gerade auf Deutschland nicht zu“, sagt Roland Czada vom Zentrum für Demokratie und Friedensforschung der Universität Osnabrück unserer Redaktion. „Vielmehr laden Regierungen die ihnen wichtig erscheinenden Verbände zu Anhörungen, Gipfelrunden, Hintergrundgesprächen und kurzfristig gebildeten Kommissionen ein.“ Die Regierung moderiere Dialoge und werbe um Kompromisse und Zustimmung, so Czada. „Meistens werden dabei Verbände und Unternehmen stärker vom Staat unter Druck gesetzt als umgekehrt, indem beispielsweise mit Gesetzgebungsinitiativen oder Maßnahmen gedroht wird.“

Wer ist wie einflussreich? Das lässt sich schwer bewerten. Allerdings gibt es ein Ranking für die Legislaturperiode bis 2017. Ein Forschungsinstitut und der „Tagesspiegel“ werteten fast 10000 Tagesordnungen von Bundestagsausschüssen aus und fragten, welche Institutionen am häufigsten zu Gast waren. Ergebnis: „In der Masse wird niemand so stark beteiligt wie der Deutsche Gewerkschaftsbund.“ Es folgten der Verbraucherzentrale-Bundesverband und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Aber auch Universitäten, kommunale Spitzenverbände, der Bundesverband der Deutschen Industrie, die Bundesärztekammer, der Caritasverband und der Paritätische Wohlfahrtsverband wurden regelmäßig eingeladen. Reden wir über einige von ihnen.

Einfluss der Gewerkschaften nimmt ab

Da sind zum Beispiel die DGB-Gewerkschaften. Auch wenn die Zahl ihrer Mitglieder in jüngster Zeit wieder steigt – im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte hat sie sich, Stand 2020, auf 5,85 Millionen fast halbiert. Für Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, steht fest: „Der Einfluss der Gewerkschaften hat in den letzten Jahrzehnten stetig abgenommen. Weniger als die Hälfte aller Arbeitsplätze in Deutschland ist heute noch über Tarifverträge abgedeckt.“ Vor allem im Niedriglohnbereich sind die Gewerkschaften nur schwach vertreten, erklärt Fratzscher unserer Redaktion. Er fügt hinzu: „Die Schwäche der Sozialpartnerschaften ist einer der Gründe für den großen Niedriglohnbereich in Deutschland.“

Wie sehen die Gewerkschaften selbst ihre Rolle? DGB-Chef Reiner Hoffmann richtet im Gespräch mit unserer Redaktion den Blick nach vorn: „Knapp sechs Millionen Menschen sind unter dem Dach des DGB gewerkschaftlich organisiert. Wir haben mehr Mitglieder als alle demokratischen Parteien zusammen.“ Selbstbewusst fügt er hinzu, während der Pandemie sei der Stellenwert der Arbeitnehmervertretung für viele Menschen sichtbar geworden: „Die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes, die Verlängerung der Kinderkrankentage und die Ausweitung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes – all das sind ganz konkrete Errungenschaften der Gewerkschaften.“ Hoffmann räumt aber auch ein, die Sozialpartnerschaft müsse immer wieder errungen und verteidigt werden. „Deswegen muss die nächste Bundesregierung endlich darauf hinwirken, dass mehr Menschen unter den Schutz von Tarifverträgen kommen.“

Enge Symbiose zwischen Politik und Unternehmen

Großer Einfluss wird unverändert den Branchen- und Arbeitgeberverbänden zugesprochen. Marcel Fratzscher hält fest: „Die Unternehmerverbände sind nach wie vor sehr einflussreich, da es eine sehr enge Symbiose zwischen Politik und Unternehmen in Deutschland gibt.“ Viele Politiker und Parteien zögen ihre Stärken auch aus der Unterstützung der Unternehmen und der Wirtschaft.

Einzelne Branchen mobilisieren enorme Ressourcen, um ihre Interessen zu vertreten, wie die „Bürgerbewegung Finanzwende“ betont. Nach ihren Schätzungen gibt allein die Finanzbranche jährlich mehr als 200 Millionen Euro für Lobbyarbeit in Deutschland aus. Zudem beschäftigt sie diesen Angaben zufolge mehr als 1500 Mitarbeiter. „Insgesamt mehr als 250 verschiedene Organisationen aus Finanzlobby und erweiterter Finanzlobby haben die deutsche Politik in den Jahren 2014 bis 2020 zu beeinflussen versucht“, heißt es in einer Studie der Bürgerbewegung.

Auch für Christina Deckwirth vom gemeinnützigen Verein Lobby Control steht fest, wer im Lobbyismus besonders einflussreich ist: „Während im Beraterkreis zum Armuts- und Reichtumsbericht Kirchen und Sozialverbände gut vertreten sind, gibt es in vielen anderen Gremien eine klare Schlagseite zugunsten der Unternehmen und Wirtschaftsverbände.“ Auf Anfrage nennt Deckwirth Beispiele aus der Klimapolitik: „Zum Autogipfel der Bundesregierung sind Umwelt- oder Verbraucherschutzverbände nicht eingeladen, die IG Metall ist dabei, ansonsten die Unternehmenschefs und der Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA).“

Klimaschutz und Umwelt gewinnt an Einfluss

Die Umweltverbände sind schon aufgrund ihrer Größe eine Macht in Deutschland. Allein der Nabu hat mehr als 820000 Mitglieder, Greenpeace zählt 600000, der BUND kommt auf 470000. Zum Vergleich: Die nach Köpfen stärkste deutsche Partei, die SPD, hat 404000 Mitglieder. Zugute gekommen ist den Umweltverbänden zuletzt der sogenannte „Greta-Effekt“ und der Erfolg der Klimaaktivisten von Fridays for Future. Interessengruppen im Bereich von Klimaschutz und Umwelt hätten an Einfluss gewonnen, beobachtet DIW-Chef Fratzscher.

Doch wachsen die Bäume nicht in den Himmel, wie Lobby Control deutlich macht. Als Beispiel nennt Deckwirth die von der Großen Koalition geschaffene „Nationale Plattform Zukunft der Mobilität“: „Hier sind Umweltverbände zwar vertreten, aber Personen mit Verbindungen zur Auto- oder Mineralölindustrie dominieren ganz klar.“ Die Kontakte von Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) in der auslaufenden Wahlperiode verweisen laut Deckwirth in die gleiche Richtung: „Scheuer traf sich 80-mal mit Autounternehmen und nur einmal mit Umweltverbänden.“

Klimaschutz ist aktuell ein Topthema

Andererseits erhielt Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer gemeinsam mit Greta Thunberg eine Einladung ins Kanzleramt. Und auch auf dem Ökumenischen Kirchentag hat Neubauer schon mit Kanzlerin Angela Merkel diskutiert. Klimaschutz ist aktuell ein Topthema, auch weil bei den Flutkatastrophen in NRW und Rheinland-Pfalz deutlich geworden ist, wie stark der Klimawandel sich im Extremfall auch hierzulande auswirkt. Dementsprechend finden Umweltschützer mehr und mehr Gehör, nicht nur in Kreisen der Grünen.

Politikwissenschaftler Roland Czada verweist auf das Phänomen der „Verhandlungsdemokratie“. Regierungen, so sagt er, müssten mächtige Einflussgruppen berücksichtigen. Das geschehe überwiegend durch Verhandlungen mit mehreren, gegebenenfalls auch konkurrierenden Gruppen. Die Regierenden handeln dabei laut Czada auch im Eigeninteresse: „Regierungen versammeln ihren Zielvorstellungen zumeist freundlich gesinnte und nützlich erscheinende Vertreter der Zivilgesellschaft, denen sie einen repräsentativen Status zuweisen.“