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AbhöraktionWas macht die Taurus-Leaks so peinlich?

Lesezeit 6 Minuten
Boris Pistorius (SPD), Verteidigungsminister, gibt ein Pressestatement zu der Diskussion nach der Veröffentlichung eines Mitschnitts eines Gesprächs von deutschen Offizieren, zu Taurus-Marschflugkörpern, durch eine russische Propagandistin.

Boris Pistorius (SPD), Verteidigungsminister, gibt ein Pressestatement zu der Diskussion nach der Veröffentlichung eines Mitschnitts eines Gesprächs von deutschen Offizieren, zu Taurus-Marschflugkörpern, durch eine russische Propagandistin.

Weniger der Inhalt ist eine Enthüllung, sondern vielmehr die Tatsache, dass diese Abhöraktion überhaupt gelang.

1:0 für die russische Propaganda: Margarita Simonjan, Chefredakteurin des russischen Propagandasenders RT, hat eine offenbar von russischen Geheimdienstlern mitgeschnittene Telekonferenz über den Dienst Webex veröffentlicht, bei der der deutsche Luftwaffeninspekteur Ingo Gerhartz, der Luftwaffen-Brigadegeneral Frank Gräfe und zwei Offiziere im Dienstgrad eines Oberstleutnants über die Probleme einer möglichen Taurus-Lieferung an die Ukraine sprachen.

Ist das Material, das Russland veröffentlicht hat, authentisch?

Das Bundesverteidigungsministerium hat bestätigt, dass das Gespräch tatsächlich stattgefunden hat. Unklar ist, ob die Aufnahme von russischer Seite bearbeitet wurde. Die russische Datumsangabe – 19. Februar 2024 – ist nachvollziehbar, denn die Offiziere sprechen über die um diese Zeit offenbar gewordene Kostenexplosion beim Umbau des Fliegerhorstes Büchel. Auch ansonsten ist der Gesprächsverlauf plausibel, gerade, weil die Gesprächsinhalte keineswegs zu den üblichen russischen Narrativen passen. Die Deutschen wollen sich nicht am ukrainischen Abwehrkampf gegen Russland beteiligen – ganz im Gegenteil.

Viel wichtiger als dieser für ihre Zwecke wenig nützliche Gesprächsinhalt dürfte für Simonjan der Triumph gewesen sein, die Aufzeichnung einer solchen internen Besprechung in der Hand zu haben und veröffentlichen zu können. „Der Leak ist die Story“, hat der prominente Berliner Parlamentskorrespondent Gordon Repinski auf X kommentiert.

Der Mitschnitt startet mit dem üblichen Geplauder zu Beginn einer Videokonferenz: Gräfe wird aus Singapur zugeschaltet und schwärmt von seinem Hotel. Für ihn ist es kurz vor Mitternacht, er war „gerade was trinken“. Seine Verbindung war allem Anschein nach die Schwachstelle, nicht gesichert, so dass die Russen sich aufschalten konnten. Dem britischen Militäranalysten Shashank Joshi blieb angesichts dieses wahrscheinlichen Szenarios nur ein Stoßseufzer: „Gott, hilf den Leuten, die mit der Geheimhaltung von Nato-Plänen befasst sind.“

Was wollten die Offiziere mit dem Gespräch erreichen?

Gerhartz bereitete – laut Mitschnitt – mit seinen Experten ein Informationsgespräch für Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) vor, der „tief in Taurus einsteigen“ wollte, um überhaupt die Argumente für und wider die Lieferung der Marschflugkörper einordnen zu können. Es ging ausdrücklich nicht um eine konkret anstehende Entscheidung.

Den Offizieren war demnach klar, wozu die Ukraine die Flugkörper gern hätte: für Angriffe auf verbunkerte Munitionsdepots – und auf die für die russische Kriegslogistik zentrale Krim-Brücke von Kertsch. Solche Angriffe erfolgversprechend durchführen zu können bezeichnet einer der Oberstleutnants als „Alleinstellungsmerkmal“ des Taurus. Und nein, die Bundeswehrleute planen keineswegs für die Ukraine einen solchen Angriff, sondern unterhalten sich über die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens. Bei einer Brücke, die „die Größe eines Flugplatzes“ habe, seien zehn bis zwanzig Schüsse erforderlich.

Zentrales Thema, über das Gerhartz mit seinen Leuten sprach: Können die Ukrainer die Waffe ohne Beteiligung der Bundeswehr einsetzen? Die Runde diskutiert alle möglichen Modelle, die Ukrainer zu unterstützen. Gerhartz besteht darauf: Es dürfe keinen „direkten Link“ in die Ukraine geben. „Wir werden es nicht schaffen, dass wir mit einer irgendwie gearteteten Beteiligung von uns das Ganze umsetzen“, heißt es: „Beteiligt ist beteiligt“. Eine Missionsplanung durch deutsche Soldaten etwa auf dem Fliegerhorst Büchel überschreite eine „rote Linie“. Ausbildungshilfe in Deutschland könne man leisten, aber Ideen wie die Abstellung von Bundeswehrsoldaten als Unterstützung zur Airbus-Tochter MDBA, dem Taurus-Hersteller, dessen Leute dann wieder die Ukrainer beraten könnten – all dies wird verworfen.

Bilanz der Runde: Die Ukrainer müssten so weit ausgebildet werden, dass sie die Geräte allein beherrschen. Und dazu am Rande zweimal die Idee: Vielleicht könnten britische Soldaten, die ja vor Ort sind, den Ukrainern helfen. All dies wie gesagt nicht als konkreter Plan, sondern als Szenario, das Verteidigungsminister Pistorius vorgetragen werden soll, damit der die Taurus-Problematik besser beurteilen kann.

Welche Bedeutung hat die Veröffentlichung?

Zunächst einmal ist der Vorgang hochnotpeinlich für Luftwaffeninspekteur Gerhartz und das Verteidigungministerium. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verspricht Aufklärung. Der Militärische Abschirmdienst ermittelt, und er wird einiges zu ermitteln haben – wohl auch in eigener Sache. Vertrauliche Konferenzen über Webex, die Kommunikation des Bendlerblocks sozuagen zum Mithören für die Russen – Verteidigungsminister Pistorius wird viel zu erklären haben. Abgesehen davon hat es die russische Propaganda mit der Veröffentlichung des Mitschnitts geschafft, jedenfalls in Deutschland die Berichterstattung über die Beisetzung des in Lagerhaft gestorbenen Kremlkritikers Alexej Nawalny zu übertönen.

Peinlich ist das Ganze natürlich auch gegenüber den Alliierten. Dass „die Engländer ein paar Leute vor Ort“ haben, darum macht London zwar kein Geheimnis, aber über ihre konkrete Tätigkeit – bis hin zum Verladen von Marschflugkörpern und zum Verkabeln der Trägerflugzeuge – erfährt die Öffentlichkeit nun von deutschen Offizieren, nachdem zuvor schon Scholz entsprechende Andeutungen gemacht und damit Verärgerung in London ausgelöst hatte. Sogar von britischer Missionsplanung „im reach back“, außerhalb der Ukraine, ist die Rede. Die von Scholz ebenfalls in den Senkel gestellten Franzosen sind laut Mitschnitt übrigens gar nicht vor Ort, dafür aber „Leute mit amerikanischem Akzent in Zivilklamotten“. Das alles ist zwar keine Überraschung, aber, wie der frühere Nato-Vizegeneralsekretär Jamie Shea dieser Zeitung kürzlich sagte: Darüber spricht man nicht öffentlich.

Der Bundeskanzler wird sich in seiner Ablehnung von Taurus-Lieferungen bestätigt sehen. Und das, obwohl die von ihm behauptete Gefahr einer deutschen Kriegsbeteiligung laut Gesprächsergebnis ja gar nicht besteht, es geht eben auch ohne Hilfe deutscher Soldaten.

Welche Folgen hat die Verweigerung des Taurus?

Am Ende ist das Ganze ein Tiefschlag für die Ukraine. Gerhartz sagt in dem abgehörten Gespräch, dass er persönlich keineswegs „Hurra“ schreien werde, wenn die Marschflugkörper geliefert würden, denn die Luftwaffe habe schon drei ihrer zwölf Patriot-Abwehrsysteme abgegeben. Zweimal 50 Stück, soviel sei drin. Briten und Franzosen seien dagegen „Winchester“, hätten also ihre Bestände an Marschflugkörpern weitgehend abgegeben.

Kurz: Wenn die Deutschen nicht liefern, könnte die Ukraine bald ganz ohne Marschflugkörper dastehen. Diese Waffen hatten entscheidenden Anteil daran, dass die Ukraine die russische Militärinfrastruktur auf der Krim und die Schwarzmeerflotte so stark dezimieren konnte. Ein Ausbleiben von Nachschub – gleich welchen Modells – verschlechtert ihre Lage massiv.

Kurz vor dem Luftwaffen-Leak hatte das „Wall Street Journal“ den Entwurf eines Friedensvertrags veröffentlicht, den Russland der Ukraine im April 2022 aufzwingen wollte – einen Unterwerfungsvertrag, der eine Rumpf-Ukraine zum Spielball des russischen Militärs gemacht hätte. Zwei Jahre später hat sich an diesem Kriegsziel nichts erkennbar geändert. Erreichbar ist es für Russland nur, wenn die westliche Unterstützung wegbricht. Deutschland, wo der Bundeskanzler von Kriegsbeteiligung raunt, erscheint Moskau offenbar immer noch als weiche Stelle der Nato und als idealer Angriffspunkt für hybride Kriegsführung.


Das sagt der Kreml

Russische Vertreter versuchen das abgehörte Gespräch für ihre Seite auszunutzen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte, das Gespräch zeige, „dass das Kriegslager in Europa immer noch sehr, sehr stark ist“. Es solle Russland eine „strategische Niederlage auf dem Schlachtfeld“ zugefügt werden. Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew schrieb unumwunden: „Deutschland bereitet sich auf einen Krieg mit Russland vor.“ (afp)

Das sagt die Union

CDU und CSU lesen aus dem Gespräch der Luftwaffen-Offiziere heraus, dass eine Beteiligung deutscher Soldaten bei einem Taurus-Einsatz durch die Ukraine technisch nicht zwingend erforderlich ist. Der Chef der CSU-Bundestagsabgeordneten, Alexander Dobrindt, sagte dem „Spiegel“, der Kanzler begründe sein Nein zur Lieferung der Waffen „möglicherweise mit einer Falschdarstellung“. CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen (Foto) konstatierte im „Tagesspiegel“ einen schweren Schaden für Scholz: Es stelle sich die Frage, „warum der russische Geheimdienst und vielleicht sogar eine höhere Stelle durch die Veröffentlichung des Gesprächs den Bundeskanzler gerade jetzt so massiv beschädigt“. (dpa)