Köln – Wer glaubt, Literatur sei den mit Lichtgeschwindigkeit operierenden Nachrichtenmedien unterlegen, täuscht sich. Vor einer Woche präsentierte Nino Haratischwili ihren über 800 Seiten starken Roman „Das mangelnde Licht“ in Köln. Darin beschreibt die gebürtige Georgierin präzise die Kontinuität der 30 Jahren währenden Expansionspolitik Russlands. Wie blind und vor allem ignorant ist Deutschlands Politik über Jahrzehnte gegenüber der Realität Osteuropas geblieben? Jetzt stellte die Ukrainerin Natalka Sniadanko mit „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater war“ ein großartiges Buch vor, das Haratischwili in nichts nachsteht.
Studierende befragten die Schriftstellerin zur Lage in der Ukraine
Im Hörsaal II der Universität zu Köln befragten die Masterstudierenden Elisa Schüler und Felix Jüstel die 49-Jährige mit dem nötigen Fingerspitzengefühl für die aktuelle politische Situation. Sniadanko, die in Freiburg studierte, liefert in ihrem Werk glasklar das historische Prospekt für den Krieg unserer Tage. In der Person des Erzherzog Wilhelm von Habsburg findet sich die Gestalt, die alle historischen Linien des Konflikts in sich vereinigt.
Der Sohn der österreichischen Dynastie wuchs in Polen auf, lebte in Paris, nahm an beiden Weltkriegen teil und setzte sich vehement für eine unabhängige Ukraine ein. In Wien wurde er 1947 vom sowjetischen Geheimdienst entführt und starb ein Jahr später in einem sowjetischen Lager. Eine bis heute Mythen umrankte Gestalt, die Natalka Sniadanko aber mit erfrischendem Realismus dem Alltag aussetzt. Für sie war er ein Grenzgänger.
Dass der Nationalheld bisexuell war, ist verbürgt. Sniadanko lässt ihn diese Seite seiner Persönlichkeit ausleben, was im studentischen Rund der Lesung gut ankommt. Amüsiert berichtet die Autorin von älteren Herren, die einst im Widerstand gekämpft hatten, und ihr nun nach der Lesung die Frage stellen mussten: „Hätten Sie solche Details nicht weglassen können?“
Roman bietet ein großartiges Lesevergnügen
Sniadanko beschert Wilhelm ein Weiterleben und stellt ihm mit Halyna eine kluge Enkelin an die Seite, die in der sowjetischen Epoche aufwächst, eine Familie gründet und von der Sorge geplagt wird, keine gute Mutter zu sein. Das Leben ihrer Geschlechtsgenossinnen behält Sniadanko stets im Blick. „Es heißt immer, dass sich die Frauen aufopferten. Aber mich interessierte, wo ihre Schwäche lag. Wie sie den Alltag bewältigten. Sie bekamen keine Kleidung, das war wie im Zweiten Weltkrieg.“
Das könnte Sie auch interessieren:
Sniadankos Roman bietet ein großartiges Lesevergnügen. Europäische Geschichte wird in einem Konzentrat geboten, das humorvoll, sinnlich, tragisch und mit einem subtilen Talent für literarische Bildkompositionen angereichert ist. Ihre Prosa klingt vielstimmiger als es die von ihr selbst monoton gelesenen Passagen des Romans vermuten lassen. Vergangenheit und Gegenwart verschränken sich zu einem facettenreichen Panorama Osteuropas.
Zum Boykott russischer Kulturgüter hat sie eine eigene Meinung: „Der trifft zwar auch die Russen, die gegen den Krieg sind, und von denen viele auch einen kolonialen Blick auf die Ukraine haben, aber wir haben nichts anderes als den Boykott, um uns zu wehren. Deshalb bin ich dafür.“
Natalka Sniadanko: Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Haymon Verlag, 426 S., 25,90 Euro