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Pluralismus legitim und katholischKirchenhistoriker im Interview über Synodalen Weg

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Hubert Wolf.

KölnIm Februar haben wir wieder eine Vollversammlung des Synodalen Weges. In der Vergangenheit hat zum Beispiel der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki kritisiert, der Blick auf die Tradition spiele bei diesem Weg keine Rolle mehr. Hatte er Recht?

Das Gegenteil ist der Fall. Die Katholikinnen und Katholiken entdecken in den letzten Jahren ihre Tradition in ihrer ganzen Vielfalt wieder. Sie lassen sich nicht mehr von irgendwelchen Hierarchen sagen, in welchem historischen Traditionen sie stünden, sondern sie merken, dass der Katholizismus eine reiche Geschichte mit ganz unterschiedlichen alternativen Modellen hat. So wie es ja auch dem Namen kat-holon, das Ganze, entspricht. Als ich darüber ein Buch mit dem Titel „Krypta“ geschrieben habe, bekam ich viele Reaktionen von Hierarchen und von sogenannten einfachen Gläubigen, die mir sagten, toll, jetzt bekommen wir endlich die Argumente gegen die Leute an die Hand, die behaupten, nur dieses oder jenes gehöre zur Tradition. Manches, was heute zur Tradition erklärt wird, ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Und man muss aufpassen, wenn jemand erklärt: Die Tradition bin ich – so wie es Papst Pius IX. vor 150 Jahren bei der Definition des Unfehlbarkeitsdogmas gemacht hat.

Aber wenn wir mal bei Pius IX. und seinen Nachfolgern bleiben: Heute gibt es Leute, die sagen, jetzt werde die Autorität des Papstes geleugnet, und das sei häretisch.

Ja, das sagt zum Beispiel der Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller. Aber solche Leute sollen doch erst einmal erklären, welche Formen des Gehorsams sie eigentlich gegenüber dem Papst selbst aufbringen. Nach ihrer Auffassung soll man dem Papst gegenüber gehorsam sein, wenn er sagt, was ihnen passt. Wenn es ihnen aber nicht passt wie etwa die Zurückdrängung des alten Messritus, die Corona-Impfpflicht für Vatikan-Besucher oder synodale Elemente, dann ist es mit dem Gehorsam dieser Herren nicht so weit her. Und dass es einen unfehlbaren Papst gibt, dieses Dogma hat eben erst vor 150 Jahren das Erste Vatikanum beschlossen.

Dazu sagen brave Katholiken: So ein Dogma fixiert doch nur, was immer schon für wahr gehalten wurde.

Schön, wenn das so wäre. Diese Kontinuität des Lehramts ist eine Fiktion. 150 Jahre lang hat die Kirche Religions- und Gewissensfreiheit abgelehnt, dann hat das Zweite Vatikanum sie als Menschenrecht anerkannt. Ein absoluter Bruch. Und selbst gemäßigte Anhänger des Unfehlbarkeitsdogmas hatten den Papst vor Verkündung des Unfehlbarkeitsdogmas aufgerufen, die Traditionen aller Kirchen zu befragen, und eine einmütige Annahme durch die Gläubigen zur Voraussetzung gemacht. Das Kirchenrecht fordert Erwachsene zu kindlichem Gehorsam auf. Aber das ist keine Kategorie für Erwachsene. Was wir brauchen, ist eine Zustimmung zu Grundüberzeugungen des Glaubens, die in sich plausibel sein müssen.

Sie haben in Ihrem letzten Buch sogar von der „Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“ gesprochen. War der Traditionsbruch wirklich so radikal?

Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein sollte man eher von Katholizismen sprechen als von Katholizismus. Es gibt ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Realisierung des Katholischen, ohne dass das die Einheit der Kirche gefährdet. Nehmen Sie einen so zentralen Punkt wie das Sakrament der Buße. Im frühen Mittelalter gibt es zwei ganz unterschiedliche Modelle: Im Mittelmeerraum, im alten römischen Reich, konnten Sie ein einziges Mal im Leben Vergebung für schwere Sünden erlangen. Sie wurden nach einem ein- bis zweijährigen Prozess wieder aufgenommen, aber diese Chance gab es kein zweites Mal. In Irland konnten Sie so oft Sie wollten zur Beichte gehen. Losgesprochen hat Sie aber nicht ein Pfarrer, sondern ein Mönch oder eine Nonne. Die hatten die Vollmacht, weil sie Christus radikal nachfolgten. Das hat die Einheit der Kirche doch nicht gefährdet. Im 19. Jahrhundert hat sich dann eine Kirchenpartei, wir nennen sie die ultramontane, einfach mit der Kirche gleichgesetzt. Das Ergebnis war eine Kirche, wie wir sie vorher nicht gekannt haben. Wir kennen zuvor kein Unfehlbarkeitsdogma. Wir kennen in früheren Zeiten auch nicht die 1954 definierte Unbefleckte Empfängnis Mariens – noch Thomas von Aquin hat sie abgelehnt, denn wäre Maria von Geburt an frei von Sünde gewesen, wäre sie ja vom Erlösungswerk Christi ausgenommen gewesen.

Wenn man im alten Irland bei Frauen beichten konnte – ließen sich aus der Vielfalt der Traditionen auch Modelle für die Rolle von Frauen in der heutigen Kirche ableiten?

Ein Beispiel: Selbstverständlich gab es weibliche Diakone, und ich zitiere bewusst die männliche Form: Das war kein Diakonat light für Frauen, sondern das gleiche Amt, das auch Männer hatten. Wir haben Weiheformulare, die für Männer und Frauen sogar teilweise identisch waren.

Der Papst hat das doch gerade untersuchen lassen und befunden, es gebe keine klaren Belege für weiblichen Diakone in der Geschichte...

Da soll er mich fragen, ich schicke ihm die Quellen. Es kommt ja immer darauf an, wen man in welche Kommission beruft. Die Forschungsliteratur ist eindeutig. Man brauchte Diakoninnen schon für die Erwachsenentaufe. Ein Mann hätte niemals eine Frau entkleiden und dreimal untertauchen dürfen. Da in der alten Kirche nur Bischöfe und Diakone tauften, brauchte man weibliche Diakone. Ein anderer Punkt: Papst Franziskus hat alte Aussage des Hippolyt von Rom wiederentdeckt, Maria von Magdala sei die Apostelin der Apostel, denn sie hat den Aposteln die Auferstehung verkündet. Apostel und nach ihnen Bischöfe kann es also nur geben, wenn es zuvor eine Apostelin gab. Und die großen Äbtissinnen des Mittelalters waren rechtlich nichts anderes als Bischöfe. Sie leitertn Diözesen, wenn auch ohne Bischofsweihe. Aber die kennen wir erst seit dem Zweiten Vatikanum als Sakrament. Thomas von Aquin lehnte sie noch ab, die höchste Weihestufe war die Priesterweihe.

Aber eine Priesterweihe hatten solche Äbtissinnen wie Hildegard von Bingen doch auch nicht, oder?

Die haben Frauen historisch nicht erhalten. Allerdings sind Priester im Altertum und im Frühmittelalter der am schlechtesten dokumentierte Stand. Jede Stadt hatte ihren Bischof und dessen Diakone. Erst unter den Merowingern und Karolingern, als es um Eucharistiefeiern in ländlichen Gebiete ging, brauchte der Bischof Priester. Zuvor nahm er selbst diese Funktion wahr. Jetzt würde ich aber sagen: Es kommt doch nicht nur darauf an, ob man in der Kirchengeschichte ein konkretes Modell findet, auf das man heute setzen könnte. Das ist natürlich einfach: Diakoninnen gab es, also können wir sie wieder einführen. Sondern es kommt in der Kirchengeschichte auch darauf an, legitime Transformationsprozesse nachzuzeichnen. Christus hat keine Kardinäle eingesetzt. Ist ihr Amt deshalb illegitim? Christus hat nicht einmal Diakone eingesetzt, das haben die Apostel getan. Jesus von Nazareth predigt seiner jüdischen Umwelt vom Reich Gottes, Paulus hat ein griechisch gebildetes Publikum und verwendet den Begriff der Gnade, mit dem diese Leute etwas anfangen können. Ist das illegitim? Christus ist ein konkreten historischen Situation Mensch geworden, und die Kirche ist nichts anderes als seine Wirkungsgeschichte.

Könnte der Blick auf solche historischen Transformationsprozesse auch helfen, heutige Streitfragen, etwa den Umgang mit Homosexualität, zu beantworten – vielleicht auch im Bistum Aachen anders zu beantworten als im Erzbistum Mombasa?

So ein Pluralismus ist legitim. Die Botschaft Jesu muss sich inkulturieren, dann muss man auch die unterschiedlichen kulturellen Rahmenbedingungen akzeptieren. Sonst funktioniert das nicht. Ich gebe mal ein ganz anderes Beispiel für Inkulturation: Ich war bei der Amazonassynode eingeladen und habe mit indigenen Menschen darüber gesprochen, wie schwierig für mich als Europäer der Umgang mit dem Sakrament der Krankensalbung ist. Die haben geantwortet: Ja, Du bist Europäer, aber für uns ist die Krankensalbung fast wichtiger als die Eucharistie, denn in unserer Kultur ist das Anfassen zentral. Wir sagen nicht Baum, sondern wir fassen einen Baum an und spüren ihn, und auch die Zuwendung Gottes können wir nur durch Berührung ausdrücken. Deshalb verlieren wir so viele Gläubige an die Evangelikalen, und deshalb brauchen wir die Erlaubnis für Nichtpriester, die Krankensalbung zu spenden. Zurück zu Ihrer Frage: Franziskus hat in seiner Umweltenzyklika etwas gesagt, was das Lehramt noch nie eingeräumt hat. Er hat gesagt, wo die Bibel keine schlüssige Antwort gibt, müssen wir die Antworten der Wissenschaft akzeptieren, also etwa, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Darauf müssen wir dann im christlichen Geist antworten. Analog: Was Mediziner und Sozialwissenschaftler zur sexuellen Identität feststellen, das muss die Kirche akzeptieren und von da aus fragen, wie sie sich den Menschen zuwendet. Das ist eigentlich ein ganz normaler Vorgang.

Heftige Auseinandersetzungen gibt es auch über den Umgang mit Geschiedenen. Die konventionelle Lesart lautet: Ehen sind unauflöslich, dafür hat Rom vor 500 Jahren sogar eine Kirchenspaltung hingenommen, als der Papst dem englischen König Heinrich VIII. die Scheidung verweigerte.

Naja, das mit Heinrich VIII. war eine rein politische Entscheidung, getroffen von Papst Clemens VII., der andererseits die Einberufung eines Konzils verweigerte und damit entscheidenden Anteil an der Kirchenspaltung im heutigen Deutschland hatte. Heute geht es um folgendes: Seit dem Konzil von Trient gilt die Ehe als Sakrament, richtig. Wir wissen aber auch aus dem Neuen Testament, dass die Kranken den Arzt brauchen, nicht die Gesunden. Und dass Ehen scheitern können, ohne dass man immer klar sagen kann, wer schuld ist. Eine Frau hält es mit einem Alkoholiker nicht mehr aus, muss mit ihrem Kind ausziehen und trifft einen anderen Mann, mit dem sie eine richtig gute Ehe führt. Was soll ich als Priester sagen? Es geht nicht um ein Laissez-faire, aber ich habe mich mehrfach entschieden, solche Menschen nach reifer Entscheidung und entsprechender Buße wieder zu den Sakramenten zuzulassen. Wir haben doch die Vollmacht zu binden und zu lösen. Und wie konsequent ist es denn, bei Eheproblemen derart radikal durchzugreifen, bei Bischöfen, die Missbrauch vertuschen, aber beide Augen zuzudrücken?

Wir sprachen eben über die Reformation. Auf katholischer Seite dominiert das Bild von Teilen der Kirche, die sich da von den gemeinsamen Wurzeln abgelöst hätten. Haben Kirchen der Reformation vielleicht nur andere Teile der gemeinsamen Tradition aktualisiert?

Zugespitzt lautet die These: Uns Katholiken gibt es seit 2000 Jahren, die Protestanten seit 500. Und so ist es nicht. Die Kirche des späten Mittelalters war breit katholisch. Heute ist es so, dass das, was früher in einer und derselben Kirche möglich war, in verschiedene Kirchen ausgelagert war. Luthers Position zur Rechtfertigung war die des heiligen Augustinus. Wenn Sie Luther exkommunizieren, müssen Sie auch Augustinus exkommunizieren. Neben dieser augustinischen Tradition gibt es eine andere Linie, die durch Erasmus von Rotterdam geprägt ist und die Freiheit des Menschen betont – und damit auch die Notwendigkeit, selbst etwas für das Heil zu tun. Auch das ist katholisch. Mein Vor-Vorgänger hier auf den Lehrstuhl, Erwin Iserloh, hat immer gesagt: Luther rang einen Katholizismus in sich nieder, der nicht mehr katholisch war. Heute haben die Katholiken von den Protestanten gelernt, wie wichtig das Wort Gottes in der Liturgie ist, und Protestanten übernehmen katholische Symbole wie die Taufkerze, die sie früher für Teufelszeug hielten. Entweder gelingt es uns als Christen, gemeinsam die Stimme zu erheben, oder das Christentum marginalisiert sich.

Die katholische Kirche hat große Schwierigkeiten, die Gläubigen wirklich für alle sieben Sakramente zu begeistern, die sie heute zählt. Kann sie da etwas aus der Geschichte lernen?

Der Begriff des Sakraments wurde erst im 12. Jahrhundert definiert, vorher wissen wir gar nicht, was das ist. Und bis ins 15. oder 16. Jahrhundert ist die Zahl der Sakramente unklar, es sind 15 bis 30. Zum Beispiel ist die Königssalbung ein Sakrament mindestens auf der Stufe der Weihe zum Diakon, nur deshalb durfte der König in der Messe das Evangelium vortragen. Auf die Zahl sieben ist man gekommen, weil die Reformatoren nur zweieinhalb hatten.

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Die Beichte! Luther hat die so halb: Sein kleiner und sein großer Katechismus, der mit der Vermahnung zur Beichte, unterscheiden sich. Landeskirchen wie die bayerische kennen noch die Privatbeichte. Auch wenn man heute mit manchen Sakramenten Schwierigkeiten hat, können sie ja ihre Bedeutung wandeln. Das Zweite Vatikanum hat die Letzte Ölung zur Krankensalbung umgebogen. Wir sollten nicht auf die einzelnen Sakramente schauen, sondern auf die Bedeutung des Sakramentalen an sich: Es gibt neben dem Wort Gottes auch die Zeichen. Geht es nicht heute ums Ganzheitliche? Warum hängen Agnostiker Engel ins Fenster? Warum so viele Kerzen im Advent? In diesem Suchen nach dem Affektiven, Ganzheitlichen steckt eine Riesenchance.

Ihr Fazit zum Umgang mit Traditionen?

Wir haben zwei Erkenntnisquellen, Schrift und Tradition. Das Konzil von Trient sagt, etwas kann nur Lehre sein, wenn es in beiden Quellen vorkommt. Und das ist doch großartig. Wer sich nur auf die Schrift konzentriert, wir leicht zum biblizistischen Fundamentalisten. Wer nur an die Tradition denkt, kann zum Traditionalisten werden. Wer beides verbindet, sieht in der Tradition die einzigartige Möglichkeit, einen 2000 Jahre alten Text immer neu zu lesen. Die Tradition ist ein gewaltiger Strom, und wenn das Lehramt rechts und links immer höhere Betonmauern aufrichtet, geht es irgendwann wie im Ahrtal: Es kommt zu einer gewaltigen Flut.