Die Neue Musik ist mit Köln eng verbunden. Für Komponisten ist die Stadt ein kreatives Pflaster, auf dem sich viele Kollegen tummeln. Jan Sting sprach mit WDR-Musikredakteur Patrick Hahn (43) über Wurzeln und Weiterentwicklung in der zeitgenössischen Komposition.
Musikjournalist Patrick Hahn„Wir leben gerade mitten in einer Zäsur“
Neue Musik war in den Programmen der Nachkriegszeit kein Selbstläufer. Trotzdem entwickelte sich zum Beispiel um Stockhausen, Kagel, Henze eine spannende Szene. Wie haben sie das damals gemacht?
Ich glaube, es ist schwer, sich in die damalige Zeit hineinzuversetzen - in den Hunger, den die Menschen nach Livekonzerten hatten. Nach Corona war das kurz zu spüren, doch überraschend schnell hat man wieder begonnen, so etwas einzigartiges wie Livekonzerte für selbstverständlich anzunehmen. Es gab natürlich auch völlig andere Ökonomien der Aufmerksamkeit: Es waren viel weniger konkurrierende Angebote als heute.
Würden Sie Köln in der Zeit als Hotspot bezeichnen?
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Dass Köln zu einem solchen Magneten für Komponistinnen und Komponisten und Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt geworden ist, hatte natürlich mit dem Rundfunk zu tun - die Innovationskraft des WDR mit seinem elektronischen Studio hat in die ganze Welt im wahrsten Sinne ausgestrahlt. So etwas ist schwer zu reproduzieren.
Was gab es für musikalische Einschnitte im Zeitstrahl?
Ich denke, wir leben gerade mitten in einer Zäsur. Die Erfahrungen der Pandemie sind längst noch nicht überwunden, es herrscht Krieg in der Welt, das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit wird abgelöst vom Zeitalter der technischen Produzierbarkeit. Ich glaube, wir leben in der größten Zäsur seit dem Fall der Berliner Mauer.
Was für eine Rolle nahm und nimmt die Kirche ein, zum Beispiel in Düsseldorf mit der internationalen Orgelwoche.
Liturgie und Innovation stehen einander oft konträr gegenüber. Wenn wir auf den Kölner Dom blicken: Das Stück, das mit dem Gerhard Richter Fenster auf Augenhöhe kommuniziert, das ist noch zu schreiben! Die internationale Orgelwoche habe ich bislang noch wenig wahrgenommen, ich hoffe, als Kölner sieht man mir das nach.
Wie ist die Atmosphäre in Köln als Ort für Komponisten?
Wie alle schätzen auch Künstler in Köln die Lässigkeit. Köln könnte sich manchmal noch stärker dessen bewusst sein, um was für eine Musikweltstadt es sich hier handelt.
Jede Zeit hat ihren Klang. Wie klingt Klimawandel?
Das Geräusch von schmelzenden Gletschern klingt erschreckend schön, schön schrecklich. So zu erleben letztes Jahr bei den „Wittener Tagen für neue Kammermusik“ in einem Stück von Carola Bauckholt mit dem Titel „Solastalgia“.
Welche Perspektiven sehen Sie angesichts des Wandels bei den Kulturradios, es dürfte Veränderungen geben. Ist der Rotstift eine Gefahr für die Neue Musik?
Kunst entsteht immer innerhalb von Rahmenbedingungen. Dass die sich gerade nicht zum Guten verändern, ist in vielen Bereichen zu sehen. Der Rotstift ist bei mir noch nicht angekommen, aber es wäre wohl auch naiv anzunehmen, dass bei den weitreichenden Reformen, die gerade auf höchster politischer Ebene verhandelt werden, Artenschutz gewährt wird.
Trotzdem pulsiert das Genre.
Der WDR ist der weltweit wichtigste Produzent von Neuer Musik. Das WDR Sinfonieorchester spielt pro Jahr ungefähr acht Wochen für „Musik der Zeit“, ein solches Engagement finden Sie bei keiner anderen Rundfunkanstalt oder bei keinem anderen Orchester von diesem Niveau. Der Westdeutsche Rundfunk ist für die Neue Musik weltweit immer noch systemrelevant.
Wie geht es der Kompositions-Szene heute?
Die ist lebendiger denn je: In den letzten Jahren haben sich in Köln so viele zahlreiche junge Ensembles gegründet und angesiedelt - „Garage“, „Handwerk“, „electronic ID“, „kollektiv 3:6“ - dass es eine helle Freude ist. Es wird aber auch immer schwieriger, von der einen Szene zu sprechen. Wie in der gesamten Gesellschaft gibt es so vielfältige verschiedene Strömungen, dass es gar nicht mehr so einfach ist zu sagen, was die Neue Musik ist. Sie wird immer vielfältiger und immer bunter.
Und wie wird sie vom Publikum angenommen?
Viele sind möglicherweise überrascht, wie eingängig die Gattung manchmal klingt. Wir leben ja in einer besonderen Zeit: Einerseits haben wir noch nie so viel Musik gekannt und abrufbar gehabt wie heute. Andererseits gibt es eine Verengung auf einen Kanon an Stücken, die immer wieder aufgeführt werden: Als ob die Menschen nicht wirklich die Musik hören wollten, sondern anhand der Musik ihre Erinnerungen wieder erleben wollten.
Da kann Neue Musik sicher als Kontrast aufrütteln.
Sie ist da immer noch die wohltuende Abwechslung: Niemals bin ich doch als Mensch mit meinem Hörsinn so gefragt, wie in dem Moment, wenn ich mit einem Ensemble ins Offene gehe, in eine Hörerfahrung, die ich eben noch nie gemacht habe. Eine ganz wichtige Erfahrung, die wir, glaube ich, gerade machen müssen, ist eine Relativierung, bei der wir die klassische westliche Musiktradition, aus der die Neue Musik hervorgegangen ist, einordnen, in die verschiedenen klassischen Musiktraditionen der ganzen Welt.
Sie sind im WDR Harry Vogt nachgefolgt, der über dreieinhalb Jahrzehnte Pflöcke mit 1000 Uraufführungsaufträgen setzte. Was hat er Ihnen mit auf den Weg gegeben?
Gute Ratschläge wären nicht seine Art gewesen. Aber er hat mit seinem Werk, das er geschaffen hat, mit den Tausenden Einträgen im Archiv, den Schallplatten und Veröffentlichungen ein Beispiel gegeben, wie man die Mittel des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk sinnvoll einsetzen kann.
Haben Sie schon einmal einen Kaffee mit Ihrem Namensvetter, dem Wuppertaler Dirigenten Patrick Hahn getrunken?
Zuletzt haben wir eine Zigarette vor der Philharmonie geraucht.
In Zürich wurde Patrick Hahn 1980 geboren und wuchs in Hagen auf. Seit 2015 prägt er in der künstlerischen Programmplanung das Profil des Gürzenich-Orchesters mit. Seit 2022 verantwortet er als WDR-Redakteur die Konzertreihen „Musik der Zeit“, die „Wittener Tage für neue Kammermusik“, deren künstlerischer Leiter er ist, und das „Studio Neue Musik“.