In Zusammenarbeit mit dem Archiv der documenta geht das Zentrum für verfolgte Künste in Solingen unter dem Titel „1929/1955 – Die erste documenta und das Vergessen einer Künstler:innengeneration“ zu den Anfängen der Weltkunstschau in Kassel. Jan Sting sprach mit Direktor Jürgen Kaumkötter.
Das Zentrum für verfolgte Künste geht in seiner Ausstellung zu den Anfängen der documenta 1955. Wäre die Aufmerksamkeit, welche die Weltkunstausstellung in Kassel derzeit erlebt, wohl auch damals denkbar gewesen?
Unsere Restauratorin, Marielena Bounaiuto, hat einen wunderbaren Vergleich zwischen 1955 und heute gezogen. Sie sagte: „Heute schauen die Leute ganz genau hin. Man sieht die politische Setzung sehr kritisch, bis hin zu überkritisch. 1955 wollte man das alles nicht sehen. Hätte man 1955 so hingeschaut wie heute, dann hätte man die ganzen Nazis rausgeschmissen.“
Sie vergleichen die Vierte Große Kunstausstellung 1929 in Kassel mit der ersten documenta 1955. Arnold Bode, Sozialdemokrat, war deren Initiator. Aber er stand im Schatten des blendenden Rhetorikers Werner Haftmann. Ein Mann mit schlimmer NS-Vergangenheit. In Italien wurde er wegen Folter gesucht, was allerdings erst vor wenigen Jahren an Tageslicht kam. Wie kam es zu der Zusammenarbeit?
Ein prominentes Beispiel für die Kontinuität der Eliten zwischen dem Naziregime und der frühen Bundesrepublik sind Kanzler Konrad Adenauer, der in der NS-Zeit gefährdet war, und Hans Globke, Chef des Bundeskanzleramts, der schon im Reichsinnenminsterium unter den Nazis aktiv war. Bode bewegte sich auch in einer solchen Grauzone.
Forschungsarbeit
Das Zentrum für verfolgte Künste forscht über die Anfänge der Weltkunstschau in Kassel, die von Männerbünden bestimmt waren. Von 21 Gründungsmitgliedern hatten zehn eine Vergangenheit in der NSDAP, SA oder SS. Antisemitsche Äußerungen finden sich laut Direktor Jürgen Kaumkötter (Foto) in den Akten nicht, doch wurde mit Ausnahme des Avantgardisten Marc Chagall kein jüdischer Künstler 1955 ausgestellt. Die Erinnerungskultur setzte später ein. 2023 geht die Solinger Ausstellungen nach Kassel, das Team forscht weiter. (jan)
Aber er war Künstler und ein Kenner der Szene. Warum ließ er Haftmann so viel Raum, dass er bei den Künstlern Opfer der Shoa aussortierte?
Haftmann war ein Superstar in der Kunstszene, hatte Charisma, zog an. Bode war eher der Macher im Hintergrund. Und die documenta wurde ein riesiger Erfolg, war ein Kassenschlager.
Welche Rolle spielten die Ausstellung in Kassel und ihre Gründer fortan für die Bildende Kunst der Nachkriegszeit?
Die documenta ist für Künstler ein Label. Das ist nicht der Garant, dass sie bis zum Sanktnimmerleinstag ein Auskommen haben, aber ein großer Schritt in die Richtung. Nach wie vor ist es so, dass Künstler, die auf der documenta ausgestellt haben, zu den „happy few“ gehören. Mein Freund und damaliger Besucher, Martin Damus, beschrieb die documenta 1955 immer wieder als Initialerlebnis. Das Besondere war dabei die europäische Moderne.
Und nun sollte der globale Süden in Kassel mal den Dialog mit dem Norden in Gang setzen. War der Eklat abzusehen?
Ich sage jetzt vorschnell nein. Es sind ja politisch radikale Kollektive, die dort nicht kuratiert zusammen gekommen sind. Ein Kollektiv hat quasi das nächste eingeladen und die haben wieder Leute eingeladen. Die ausgeschiedene Generaldirektorin Sabine Schormann sagte, dass sie zur Eröffnung gar nicht alle Künstler kennen konnte – wo mir als Kurator alle Alarmsirenen angehen. Ich muss zumindest einmal alles gesehen haben. Wenn wir hier in Solingen politisch verfolgte Künstler zeigen, kann es nicht sein, dass Sie den Staat Israel ablehnen. Und das ist etwas, was nicht vorkommen darf.
Auf der documenta waren jetzt gar keine israelischen Künstler eingeladen.
Es ist schon seltsam, weil die zeitgenössische Kunst vor allem aus Israel einfach sehr, sehr gut ist. Und sie ist halt sehr politisch und radikal. Es gibt auch dort Künstlerkollektive, die hätten gut auf die documenta gepasst. Auf Ebene der Künstler besteht zwischen Palästinensern, Israelis und Libanesen immer mal wieder Verbindung. Es gibt Initiativen, die zusammenarbeiten. Sie können aber vor Ort in Israel oder in den Gebieten der Westbank nicht zusammen arbeiten. Sie können immer nur an anderen Orten zusammen sein. Das wäre natürlich schön gewesen, sie auf der documenta zu haben, wo genau die Fragestellung war: Wie sehen wir von der westlichen Welt die Kunst des Südens?
Trotz Boykottaufrufen ist die documenta 15 gut besucht. Wie ist Ihre persönliche Bewertung abseits des Skandals?
Die documenta ist super, eine tolle Ausstellung, die auch die Perspektive erweitert. Da ist ein Kollektiv aus Haiti, das in der Kirche St. Kunigundis Skulpturen aus Schrott ausstellt. Sehr sehenswert. Oder das Kollektiv aus Kenia, das riesige Altkleiderballen wieder an uns, den Absender, zurückschickt.
Und auch wenn es beim Publikum gut läuft, hat der documenta-Aufsichtsrat bisher keinen fruchtbaren Dialog in Gang setzen können. Gibt es dafür überhaupt noch eine Chance?
Im Moment glaube ich nicht. Wir waren bei den Eröffnungstagen in Kassel dabei. Die waren sehr kommunikativ. Die Debatte in ihrer Heftigkeit hat glaube ich die Fronten verhärtet. Als alles emotional überschwallt wurde, war ein argumentatives Gespräch dann nicht mehr möglich. Das kommt hoffentlich im nächsten Schritt. Es muss etwas geschehen, es muss eine Debatte geben.
Bis 11. September, Di bis So 10 – 17 Uhr, Wuppertaler Straße 160, Solingen.