Dirigent Lorenzo Viotti geht neue Wege in der Klassik-Vermittlung. „Sturm“ heißt das Abokonzert, das er Sonntag mit dem Gürzenich-Orchester dirigiert. Jan Sting sprach mit ihm.
Interview mit Dirigenten vor Konzert in Köln„In Amsterdam haben wir 60 Prozent junge Leute pro Konzert“
Lorenzo Viotti reist mit Taktstock. In der Freizeit springt er aus dem Flugzeug. „Sturm“ heißt das Abokonzert, das er Sonntag mit dem Gürzenich-Orchester mit Tschaikowskys Serenade C-Dur und Rachmaninows 2. Sinfonie dirigiert. Jan Sting sprach mit dem Maestro.
Sie kommen aus einer hochmusikalischen Familie, sind quasi im Theater geboren. Haben sie als Kind eher andächtig still dort gesessen oder sind über Stühle geturnt?
Ich war ein sehr aktives Kind. Wir waren überall mit unseren Eltern und in Sport und Musik immer sehr umtriebig. Aber trotzdem sehr konzentriert, wenn es um Musik ging.
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Welche Impulse gaben die Eltern?
Sie haben uns einfach eine unheimliche Generosität weitergegeben. Sie haben nie gesagt, dass wir Musiker werden müssen, oder was wir überhaupt studieren sollen. Das war total frei, mit sehr viel Liebe. Und ich glaube, deshalb sind wir alle Musiker geworden. Es war keine Pflicht.
Was war Ihr erstes Instrument?
Mit dem Schlagzeug habe ich angefangen, aber dann kamen schnell Gesang und Klavier dazu.
Sie sind jung und wollen ein junges Publikum erreichen, unter anderem über Social Media. Kommen jüngere Leute?
Absolut, ja. Ich spreche immer vorher mit dem Publikum. Das bricht das Eis. Damit laden wir die Leute ein, Musik zu erleben. Egal wie alt sie sind, und was sie für Klassikerfahrungen mitbringen. In Amsterdam, wo ich Chefdirigent bin, haben wir 60 Prozent junge Leute pro Konzert. Über Social Media den Kontakt herzustellen, das funktioniert.
Lassen sich die Konventionen in der Klassik umkrempeln?
Also, für einige Institutionen bin ich überhaupt nicht optimistisch. Weil manche offenbar denken, das Publikum wird zurückkommen, ohne dass sie etwas ändern müssten. Aber das ist einfach nicht mehr möglich. Ich verstehe meinen Beruf nicht so, dass ich eine schöne Sinfonie dirigiere und dann weggehe. Ich beziehe auch alles ein, was um den Konzertbetrieb herum besteht. Und ich werde kämpfen, soviel ich kann.
Sehen Sie die Zeit der Pandemie als Chance für einen Neustart? Was ist jetzt vor allem entscheidend?
Ja es ist eine Chance. In Lissabon haben wir mit dem Orchester öffentlich geprobt, quasi in unsere Küche eingeladen. 1800 Leute standen schon eine Stunde vor Beginn schon draußen Schlange. Dann gab es drei Stunden Le Sacre Du Printemps mit dem Mikrophon. Ich habe natürlich geprobt, aber auch erzählt. Die Leute haben gespürt, was wir da gerade kochen. Das hat unglaublich gut funktioniert. In der Saisoneröffnung waren wir sofort komplett ausverkauft.
Sport spielt eine große Rolle in Ihrem Leben. Was ist das für ein Gefühl, aus dem Flugzeug zu springen? Ist das vergleichbar mit einer großen Sinfonie, die Sie dirigieren?
Das, was ich erlebe, wenn ich aus einem Flugzeug springe, habe ich bis jetzt noch nie erlebt, wenn ich eine Sinfonie dirigiere. Es ist eine Art, mein professionelles mit meinem persönlichen Leben auszugleichen. Ich versuche die Balance zu halten zwischen diesem hohen, stressigen Rhythmus im Konzertbetrieb. Denn als Dirigent reist man um die ganze Welt und muss im Kopf unheimlich fit und schnell sein – und trotzdem sehr offen.
Daher müssen Sie im Training bleiben.
Ich arbeite jeden Tag mit Menschen. Das ist nicht nur eine Arbeit am eigenen Ego. Das ist ein Wir. Natürlich muss man da körperlich fit sein, auch weil man die ganze Zeit steht. Diese Woche habe ich sechs Konzerte in verschiedenen Städten gegeben. Man isst spät und schläft wenig. Sobald man körperlich begrenzt ist, ist man im Kopf nicht frei. Weil man an die Rückenschmerzen denkt. Es ist ja immerhin ein Beruf, den man lange ausüben kann, bis man irgendwann stirbt.
Sie sagen aber schon jetzt, dass Sie in den nächsten Jahren den Rhythmus Ihrer Aktivitäten als Dirigent reduzieren wollen. Was rückt an die Stelle?
Ich habe das Glück, dass ich wählen kann, wo und mit wem ich dirigieren will. Das ist ein großer Luxus. Daran habe ich sehr viel gearbeitet. Ich will nicht mit 50 sagen, dass ich meine Zeit als 30- oder 40-Jähriger nur auf das Dirigieren verwendet, und dabei meine Familie, meine Freunde nicht gesehen habe. Ich habe schon zu viele Begräbnisse und Hochzeiten verpasst. Es ist sehr gefährlich, weil man diesen Beruf so sehr liebt. Aber man vergisst dabei, dass es im Leben auch noch anderes gibt.
Was unternehmen Sie?
Jetzt nehme ich jeden Sommer frei, habe Zeit für Menschen, die ich liebe. Natürlich könnte ich dann nach Salzburg gehen. Aber ich arbeite zehn Monate durch, nonstop. Und das ist nicht gut. Mein Vater ist deswegen auch früh gestorben. Ich will nicht den gleichen Fehler machen. Wenn ich jetzt auf die Bremse trete, werde ich glaube ich mit 50 glücklicher sein.
Giovanni Battista Viotti war im 19. Jahrhundert ein angesehener Violinist und Komponist. Er gilt als einer der Väter der modernen Violintechnik. Sind sie verwandt?
Ich habe keine Ahnung. Mein Vater hat uns immer gesagt, dass ja. Aber es ist nicht so wichtig für mich. Aber vielleicht… ist die Nase die gleiche? Diese große Nase?
Derzeit gibt es manchen Wechsel in Spitzenensembles wie in München oder Berlin. Was ist beim Generationenwechsel wichtig?
Wenn ich bei einem großen Orchester die Chefposition übernehme, gebe ich viel von meinem Leben. Es geht aber nicht nur darum, dass ich eine komfortable Position habe und eine schöne Beethoven-Sinfonie dirigiere. Nein, das ist heute viel, viel mehr. Man muss so viel mehr arbeiten als vor 40 Jahren, da die Klassische Musik nicht in einer guten Position ist.
Was wären Ideen für die Zukunft?
Es kommt darauf wo und mit wem. Vielleicht sind kürzerer Konzerte keine schlechte Idee. Keine Pause, eine Stunde, maximal anderthalb, ist auch wunderbar. Und wenn wir unter der Woche drei Konzerte haben, nehmen wir auch einmal ein Jugendkonzert hinzu oder gehen an die Universität, kommen ins Gespräch mit den Künstlern. Ich denke, dass ein dreieinhalbstündiges Konzert zu lang ist. Und die 25-minütige Pause ist ein Killer. Weil man wartet und die Energie geht raus.
Was erwartet das Kölner Publikum am Sonntag?
Rachmaninow hat immer das Sentimentale. Ich finde es schade, dass die meisten das nicht richtig genießen. Denn Sentimentalität ist keine schlechte Sache. Diese Befreiung in der zweiten Sinfonie nach langer Depression und der drängenden Frage, darf ich Komponist sein? Das ist so ein tiefes Stück. Und Tschaikowskis Serenade liebe ich auch. Man hat alles drin: Ballett, Melancholie, Leidenschaft. Es wird ein sehr tiefes Konzert, nicht einfach. Aber ich freu mich. Wir sind in einer Periode, in der wir Generosität und Freude brauchen.
Zur Person
1990 wurde Lorenzo Viotti in Lausanne geboren und wuchs mit drei Geschwistern in einer Musikerfamilie auf. Als Perkussionist spielte er unter anderem bei den Wiener Philharmonikern. Seine Dirigentenausbildung machte er an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar bei Nicolás Pasquet. Er ist Chefdirigent des Netherlands Philharmonic Orchestra. (jan)