Als GMD der Stadt Köln und Gürzenich-Kapellmeister wird der aus Kolumbien stammende Dirigent Andrés Orozco-Estrada in zwei Jahren den Stab von François-Xavier Roth übernehmen.
Andrés Orozco-EstradaSchon der Name ist Musik
In zwei Jahren wird Andrés Orozco-Estrada den Stab als Generalmusikdirektor von François-Xavier Roth übernehmen. Das Gürzenich-Orchester hatte im November mit ihm zusammengearbeitet, als er kurzfristig für die erkrankte Johanna Mallwitz einsprang. Die Chemie stimmte sofort.
Der 1977 in Medellín, Kolumbien, geborene Dirigent war vor zehn Jahren schon einmal heiß umworbener Wunschkandidat, entschied sich aber gegen den Job. „Es fehlte was. Da war das Gefühl, dass die Oper nicht fertig wird“, erklärte er Ende März bei der Vorstellung.
Aus heutiger Sicht eine fast prophetische Einschätzung. Im Juli 2015 wurde die Verschiebung der Wiedereröffnung auf damals unbestimmte Zeit verkündet. Orozco-Estrada ist also offenbar ein Visionär. Gleich zum Auftakt seiner Karriere stand die Zeile „Das Wunder von Wien“. Aber wie dirigiert er? Eine CD- und Videoauswahl:
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Präziser Feuervogel
Wie klingt „Der Feuervogel“ von Igor Strawinsky? Schwere Bässe vibrieren in der Introduktion, es bleibt aber filigran in der Aufnahme, die Orozco-Estrada in seiner Zeit als Chefdirigent mit dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt am Main eingespielt hat (Pentatone 2016).
Er malt das Klangbild äußerst präzise, tupft spielerisch ein feines Tableau beim Auftritt des magisch glühenden Feuervogels. Die flirrenden, aufgebrachten Flöten- und Geigentönen hält er so, dass alles jederzeit zauberhafte Spannung und Puls behält. Im Vergleich: Bei Tugan Sokhiev, einem Landsmann Strawinskys und Jahrgänger Orozco-Estradas, klingt die Vertonung der russischen Mythologie ein bisschen gesetzter. Das Orchestre National Du Capitole de Toulouse lässt den Vogel unter seinem Dirigat etwas ruhiger tanzen (Naive 2011).
Ein Musiker der neuen Welt?
Einer seiner Professoren berichtete, man habe Andrés Orozco -Estrada wie ein verrücktes Pferd zurückhalten müssen. Er selbst gestand in einem Interview, dass ihm hin und wieder der Dirigierstab aus Fiberglas ins Orchester springe. Als Kind verwendete er Radioantennen. Sein lateinamerikanisches Temperament heben manche Kritiker hervor. Aber der Dirigent bezeichnet Kolumbien und Österreich gleichermaßen als seine Heimat. Und er scheint sich mühelos in ganz unterschiedliche Nationen hineinzudenken.
Den Impetus der Musik gibt er mit regionalen Eigenheiten und Gepräge wie ein Kosmopolit wieder. Mit der Houston Symphony, die er ab 2014 für fünf Jahre leitete, legte er das Album „Musik Amerikas“ vor (Pentatone, 2018), das alle kulturellen Wurzeln aufgreift. Mit Stücken von Leonard Bernstein, George Gershwin, Astor Piazzolla und Silvestre Revueltas entführt er in ein Amerika, das tanzt, jazzt und mühelos die Grenzen zwischen Klassik und Populärmusik sprengt. Bernstein gehöre zu seinen Vorbildern, er habe mit „Bauch und Emotionen“ gearbeitet, sagt Orozco-Estrada 2021 im YoutTubeinterview als Chef der Wiener Symphoniker.
Beim „Mambo“ aus Bernsteins „Symphonic Dances from Westside Story“ (Pentatone, 2018) wirkt er im Dirigat diszipliniert. Den Streicherklang hält er barock schlank, was dem exakten Rhythmus gut tut. Der Komponist hingegen lässt in seinem Meisterwerk, das extrem technische Anforderungen an ein Orchester stellt, die Streicher süßlich jubilieren.
Das Opernfach
Wie schön ist die Prinzessin Salome? Tondichter Richard Strauss wurde Anfang des 20. Jahrhunderts Leiter der Wiener Hofoper. Und offenbar hat sich das Wienerische in die spätromantische Musik eingebrannt. Orozco-Estrada entfacht dieses Feuer, den Schmelz in der Einspielung mit dem hr-Sinfonieorchester und Emily Magee als Salome mühelos (Pentatone, 2017). Im Vergleich: Seiji Ozawa mit der Staatskapelle Dresden (Philips, 1990) ist noch mitreißender. Womöglich liegt es aber an der dortigen Salome: Jessye Norman.
„Bin ich zu laut?“ Die zum Zitat gereifte Fangfrage stammt von Pianist Gerald Moore, der selbstverständlich immer ein umsichtiger Begleiter blieb, ob bei Pablo Casals oder Elisabeth Schwarzkopf. Aber auch die Solisten haben sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Die moldauische Geigerin Patricia Kopatchinskaja zum Beispiel betritt die Bühne immer barfuß. Hinreißend ist das Zusammenspiel in Igor Strawinskys Violinkonzert im Youtubevideo mit dem hr-Sinfonieorchester aus dem Jahr 2014. Alle Musiker versprühen darin Lebensfreude pur. Orozco-Estrada versteht es hervorragend, der Solistin Raum zu lassen, mit dem Orchester die sangliche eruptive Geige aber trotzdem auf den Tritt genau abzuholen.
Tschaikowsky mit Cello
Mit dem Cellisten Jan Vogler und dem hr-Sinfonieorchester (Sony, 2016) spielte der künftige Kölner GMD Peter Tschaikowsykys anrührende Sérénade Mélancolique und dessen Variationen über ein Rococo-Thema ein. Ein gewitztes Zwiegespräch, dem die Überraschungseffekte nicht ausgehen – ein starkes Stück. Ausflug in die Populärmusik? Die Musik trägt der Dirigent quasi schon im Namen: In Osteuropa ist „Estrada“ nämlich die Bezeichnung für Unterhaltungsmusik. Einspielungen mit dem Maestro sucht man in der Gattung allerdings dann doch vergeblich.
Zur Person
In Kolumbien begann Andŕes Orozco-Estrada seine Ausbildung mit der Violine und erhielt als 15-Jähriger ersten Dirigierunterricht. 1997 ging er nach Wien. 2004 sprang er kurzfristig bei einem Konzert der Wiener Festwochen ein. Danach wurde er von der Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert. Es folgte die Zusammenarbeit mit zahlreichen internationalen Orchestern. Von den Wiener Symphonikern trennte er sich im April 2022 . Der Dirigent nannte „unüberwindbare Differenzen“ als Grund. Das Orchester erklärte, es habe Orozco-Estradas Vertrag nicht über 2024/25 hinaus verlängert.