Köln – „Ich habe mir überlegt, gleich Kasalla zu hören“, sagt Ben. Selbstbewusst und fröhlich stürmt der Neunjährige in einen Behandlungsraum in der Unireha in Sülz. Die Arme in der Höhe balancieren den unsicher stockenden Gang. Dass Ben überhaupt laufen kann, hätte vor zwei, drei Jahren kaum jemand gedacht. Frühgeboren in der 24. Schwangerschaftswoche hatte er schwere Hirnschäden. Die Folge: eine Zerebralparese mit einer beinbetonten Spastik. Lange saß Ben im Rollstuhl. Zuhause krabbelte er.
Ein bundesweit einzigartiges Konzept
Ben ist gehört zu den zahlreichen Kindern und Jugendlichen, die in der Unireha, dem Zentrum für Prävention und Rehabilitation der Uniklinik Köln, wichtige Fortschritte machen. Speziell für Kinder und Jugendliche mit Störungen des Bewegungsapparates wurde hier unter Leitung von Professor Eckhard Schönau das Konzept „Auf die Beine“ entwickelt. Es ist bundesweit einzigartig.
Teile des Konzepts fließen in die ambulante Rehabilitation ein, die hier ebenfalls entwickelt wurde. „Wir sind die erste Einrichtung in Deutschland, die die Zulassung für eine ambulante Reha für Kinder und Jugendliche bekommen hat“, sagt Schönau. Seine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist von dem Ziel geprägt, den jungen Patienten eine größtmögliche Teilhabe am Leben zu ermöglichen. Dafür wird das Angebot fortlaufend weiter entwickelt. „Wir heben hier Schätze“, lautet Schönaus Selbstverständnis.
Er hält es für sehr wichtig, dass Kinder, die eine neurologische oder orthopädische Erkrankung oder Übergewicht haben, eine Behandlung erhalten, die sich gut in ihren Lebensalltag einbauen lässt. Folglich heißt das Programm von Unireha „Ambulante Medizinisch-Lebenswelt orientierte Rehabilitation“ (AMOR). Es läuft über sechs Monate und findet neben Schule, Ausbildung und Familienalltag statt. Auch Ben geht, wenn nicht gerade Ferien sind nach den 40-Minuten Übung noch in die Schule − und er trainiert täglich zuhause.
Alle Übungen sind spielerisch und sollen Spaß bringen
„Wir machen Übungen, die in den Alltag passen, wie den Tisch zu decken oder Treppen zu steigen“, erzählt Bens Mutter. Übungen also, die gar nicht als Training zu erkennen sind, aber bei Ben, der lange nicht frei stehen oder gehen konnte, viel bewirken. „Spielerische Elemente sind ganz wichtig, damit Kinder dabei bleiben und nicht die Lust am Üben verlieren. Auch wenn es anstrengend wird“, erklärt Physiotherapeutin Stephanie Gross.
Diesen Grundsatz beherzigen die 46 Mitarbeitenden im Therapeutenteam wohin man blickt. Im Kraftraum wird mit der Beinpresse eine Comicfigur in die Luft gefahren, in der Turnhalle sind Graffitis mit Science-Fiction-Motiven. Wer eingehängt auf dem Lokomaten − einem besonderen Laufband − trainiert, sieht auf dem Monitor eine Fantasiewelt mit einem Männchen, das mit den eigenen Bewegungen gesteuert werden kann. Oft wird mit einer so genannten Galileo-Vibrationsplatte, auf der die Muskeln besonders beansprucht werden, geübt.
Auch Ben trainiert zu Beginn seines Besuchs auf der Platte. Während er sich an einer Sprossenwand festhält, versucht er, auf der wackelnden und vibrierenden Platte einen festen Stand zu bekommen. „Das fordert die Muskeln“, sagt Physiotherapeutin Stephanie Gross, die daneben kniet. Sie kennt Ben seit vier Jahren, seit zehn Jahren arbeitet sie in der Unireha. „Es ist ein sehr schöner Beruf, weil wir zielorientiert arbeiten“, findet sie.
Zielgruppen sind Kinder und Jugendliche aus dem Kölner Raum. Indikationen sind Neuromuskuläre Erkrankungen, Skelettale Erkrankungen und Adipositas.
Das Angebot einer sechsmonatigen Therapie umfasst drei Zyklen mit jeweils zwei Monaten. Es findet parallel zu Schule und Ausbildung statt, in der Regel nachmittags.
Einmal im Jahr haben Kinder und Jugendliche mit chronischen neurologischen und orthopädischen Erkrankungen Anspruch auf eine Reha. Diese kann auch wohnortnah ambulant durchgeführt werden. (dha)
Wichtig sei, immer flexibel zu sein und einen Plan B zu haben, um darauf zu reagieren, wie ein Kind gerade gestimmt sei. „Wenn die Kinder ärgerlich sind, machen wir auch schon mal Kuscheltier-Weitwurf“, sagt die Therapeutin. Besonders während der Pubertät wird das Training oft schwieriger. „Allerdings auch nicht bei jedem. Manche entwickeln gerade dann einen besonderen Ehrgeiz und wollen gerne beispielsweise ihr Gangbild verbessern. Besonders die Muckibude ist dann angesagt“, sagt Gross.
Ben ist mit neun Jahren noch weit von der Pubertät entfernt − und er macht begeistert mit. Als Gross ihn auffordert: „Komm, wir holen jetzt das Spiel“, folgt er ihr schnell. „Auch diesen Weg zu gehen, ist Teil der Therapie“, weiß Bens Mutter. Sie gibt aber auch zu, dass es manchmal anstrengend sei, Ben zu Hause zu motivieren. Sie und ihr Mann brauchen einen langen Atem. „Ein gab in den vergangenen Jahren auch viele frustrierenden Phasen. Manchmal geht es zwei Schritte zurück bevor es dann drei Schritte vorwärts geht“, sagt die Mutter.
Vorwärts stürmt Ben indes mit Kaufladen-Päckchen. Die werden auf einer Liege ausgebreitet, dann eingesammelt, durch den Raum zur piepsenden Scanner-Kasse getragen, gescannt und abgerechnet. Ben ist konzentriert bei der Sache. Steht, läuft, bückt sich. All das ist Training und Spiel. Nebenbei klingt aus dem Handy seiner Mutter wie gewünscht Kasalla: „Piraten. Wild und frei ...“