Köln – Um die barocke Fassade eines Hauses zu bestaunen, reisen Jahr für Jahr etwa 42 000 Besucher nach Trier, vor allem aus China. Was gibt es hier zu sehen? Natürlich den Geburtsort von Karl Marx, der hier im Jahr 1818 das Licht der Welt erblickte und die ersten 17 Jahre seines Lebens wohnte. Alle Menschen aber werden irgendwo geboren und verbringen ihre Jugend an dem Ort, an den Schicksal und Eltern sie verschlagen haben. Interessanter sind doch die Orte, an denen Menschen Großes vollbracht haben und sich diese als Wirkungsstätte ausgesucht haben.
Wenn man einmal absieht von dem im Trierer Geburtshaus untergebrachten Museum zu Leben und Wirken von Karl Marx, möchte man den an Marx interessierten Touristen zurufen, sie mögen doch lieber nach Köln kommen und sich ein Warenhaus in der Schildergasse 99 ansehen. Zwar deutet nichts heute darauf hin, dass irgendetwas hier jemals die Weltgeschichte bewegt haben könnte. Und doch war hier gleich zweimal im Jahr 1842 der Weltgeist zu Gast. In der Schildergasse steht die wahre Wiege des Marxismus.
Eine zeitgenössische Verkaufsanzeige preist das damals zweistöckige Haus in der Schildergasse an: Es eigne sich „sowohl zum kaufmännischen Gewerbe, wie für den Privatmann oder Rentner. Die Nähe des Neumarkts, der Post und mehrerer Kasernen dürften dieses Haus seines schönen Gartens halber ganz vorzüglich zu einer Bierbrauerei oder zu einer bayrischen Bierwirtschaft eignen.
Verwendung fand das Gebäude dann doch für das Pressewesen: Ab dem 1. Januar 1842 wurde es die Heimat der „Rheinischen Zeitung“ – ein Blatt, so Friedrich Engels, „das nach fünfzehnmonatigem Bestehen unterdrückt wurde, von dem man aber den Beginn des modernen Zeitungswesens in Deutschland datieren kann“. Mitarbeiter des Blattes war der 24 Jahre junge Karl Marx, dessen erster Artikel in der Schildergasse für die Ausgabe vom 5. Mai 1842 gedruckt wurde. Er muss überzeugt haben, denn am 15. Oktober 1842 wird Marx zum Chefredakteur befördert. Ein erfolgreicher Chefredakteur, unter dessen Leitung die Auflage mehr als verdreifacht wurde.
Dies ist alles nur Kulisse für zwei weltbewegende Ereignisse: Denn welcher Namen fällt immer in einem Atemzug mit dem von Karl Marx? Friedrich Engels. Und wo haben sich die beiden erstmals getroffen? Im November 1842 im Redaktionsbüro der Rheinischen Zeitung in der Schildergasse 99. Anfangs wusste Marx zwar nicht sonderlich viel mit dem Fabrikantensohn anzufangen, doch schon bald wurden sie beste Freunde und entwarfen gemeinsam ihre so folgenreiche revolutionäre soziale Gesellschaftstheorie. Und was ist der Kern des Marxismus? Die Auseinandersetzung mit der Ökonomie. Und wo beschäftigte sich Marx erstmals mit diesem Thema? Marx selbst schreibt: „Im Jahr 1842/43, als Redakteur der „Rheinischen Zeitung„, kam ich zuerst in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen.
Die Verhandlungen des Rheinischen Landtags über Holzdiebstahl und Parzellierung des Grundeigentums, Debatten endlich über Freihandel und Schutzzoll, gaben die ersten Anlässe zu meiner Beschäftigung mit ökonomischen Fragen.“ Wenn man das Gebäude, in dem dies geschah, nicht die Wiege des Marxismus nennen kann, dann wohl auch kein anderes.
Friedrich Engels erinnerte später an das kurze Leben der Rheinischen Zeitung: Sie „verbrauchte Zensor auf Zensor; endlich wurde sie doppelt zensiert, so dass nach der ersten Zensur der Regierungspräsident sie nochmals und endgültig zu zensieren hatte. Auch das half nichts. Anfangs 1843 erklärte die Regierung, mit dieser Zeitung sei nicht fertig zu werden und unterdrückte sie ohne weiteres.“ Karl Marx musste Deutschland verlassen.
Dann aber kam 1848 die März-Revolution. Und wohin fahren Marx und Engels, um in Deutschland die Revolution voranzubringen? Ausdrücklich nicht in die preußische Hauptstadt Berlin, sondern nach Köln, um hier die Rheinische Zeitung wiederzubeleben. Eine Plakette am Heumarkt erinnert an diesen zweiten Aufenthalt von Marx in Köln. Zunächst waren Druckerei und Redaktionsbüro aber nicht hier, sondern da, wo heute ein wenig beachtetes Parkhaus zu finden ist: An St. Agatha 12. Dem hier ansässigen Drucker und Vermieter der Büros war die politische Orientierung des von ihm hergestellten Blattes jedoch nicht ganz geheuer. In der „Neuen Rheinischen Zeitung“ vom 19. Juli 1848 inserierte er jedenfalls, dass er ausdrücklich „nur den Druck der neuen rheinischen Zeitung übernommen und daher nirgend einen Einfluss auf den Inhalt derselben ausüben kann.“ Am 28. August 1842 eskalierte die Situation zwischen Drucker und Zeitung, wohl auch aus finanziellen Gründen: Die Ausgabe des nächsten Tages lag am Nachmittag bereits fertig vor, die ersten Seiten waren schon gedruckt, als die Presse gestoppt wurde.
Das lag wohl auch an Friedrich Engels, der zu dieser Zeit, weil Marx verreist war, die Leitung der Zeitung innehatte. „Die Verfassung der Redaktion war die einfache Diktatur von Marx“, erinnerte sich Engels später. Engels selbst aber hatte, erinnern sich Zeitgenossen, noch viel weniger das Fingerspitzengefühl, Konflikte diplomatisch zu lösen. Die Gegensätze nicht nur mit dem Drucker, sondern auch innerhalb der Redaktion, so steht zu lesen, hatten sich während der Abwesenheit von Marx so zugespitzt, dass man sie „nur durch Duelle lösen zu können glaubte“.
Tote gab es nicht, sondern nur einen Umzug. Die Zeitung an sich rettete auch die neue Adresse nicht. Die Karnevalszeitung „Kölner Funken“ verlieh am 28. Januar 1849 dem Chefredakteur Marx noch den „Kommunißorden erster Klasse mit zwei aufrecht übereinanderstehenden rothen Fahnen“. Am 16. Mai 1849 aber wurde der unbequeme und offiziell staatenlose Journalist Karl Marx trotz närrischer Auszeichnung von der preußischen Regierung ausgewiesen. Am 19. Mai erschien dann die komplett rot gedruckte letzte Nummer der neuen Rhenischen Zeitung. Die Wege von Marx und Köln gingen auseinander. Der erste Band des Kapitals erschien 1867.