AboAbonnieren

Serie

20 Jahre nach Bombenanschlag in Köln
„Hauptsache, es waren die Türken“ – wie die Keupstraße der Anschlag bis heute trifft

Lesezeit 5 Minuten
Bei dem Anschlag am 9. Juni 2004 gehörten auch Ayfer Şentürk und Muhammet Ayazgün zu den Verletzten. Sie leben noch immer im Stadtbezirk Mülheim.

Bei dem Anschlag am 9. Juni 2004 gehörten auch Ayfer Şentürk und Muhammet Ayazgün zu den Verletzten. Sie leben noch immer im Stadtbezirk Mülheim.

Fast noch stärker als der Anschlag selbst hat die Keupstraße die jahrelangen Verdächtigungen getroffen. Bis zur Enttatrnung des NSU im Jahr 2011. Zwei Betroffene ordnen die Ereignisse ein.

Muhammet Ayazgün (53) ist geblieben. Er steht hinter dem Tresen seines „Café Paradies“ in der Keupstraße, poliert bauchige Teegläser und begrüßt lächelnd seine Gäste. Die ohnmächtige Beklemmung ist weg, das Unverständnis aber wird nie verschwinden. Jahrelang hat er sich fluchtartig abgewendet, wenn irgendwo das Gespräch auf den Nagelbombenanschlag vom 9. Juni 2004 kam. „Ich habe niemandem erzählt, dass ich von der Keupstraße komme. Irgendwann habe ich sogar fest damit gerechnet, festgenommen zu werden“, erinnert er sich. Denn er war am Tatort.

Als wenige Minuten vor vier an jenem Nachmittag 5,5 Kilogramm Schwarzpulver vor dem Friseursalon Özcan explodierten und 700 Zimmermannsnägel zu spitzen Geschossen wurden, stand Muhammet Ayagün mit dem Inhaber eines Restaurants auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Wir wurden zu Boden geworfen, ein Nagel schlug über meinem Kopf in einem Regenrohr ein“, erzählt er. Dann habe er selbst perplex festgestellt: „Guck mal, es regnet Nägel.“ Dass sein Trommelfell geplatzt war, hatte er erst später registriert. Zum Ohrenarzt traute er sich erst drei Wochen später, dem Mediziner habe er erzählt, morgens plötzlich mit Ohrenschmerzen aufgewacht zu sein, sagt er. Zu groß sei die Scham gewesen, zu massiv die Welle der Verdächtigungen und die Stigmatisierung gegenüber den Geschäftsleuten aus der Keupstraße.

Wir haben uns nicht geschützt gefühlt, stattdessen hatten viele das Gefühl: Hauptsache, es waren die Türken
Ayfer Sentürk

Ayfer Sentürk (49) ist nicht geblieben. Der Druck der Detonation hatte sie am Tag des Anschlags gegen die Wand des Reisebüros geschleudert, das ihrem Vater gehörte. Das Reisebüro, in das vor einigen Jahren ein Schmuckladen eingezogen ist, befand sich direkt gegenüber des Friseursalons. Inzwischen arbeitet sie in einer Post-Filiale, mit ihrer Familie wohnt sie immer noch in Mülheim, ihre Töchter (15, 16) gehen hier zur Schule. „Aber mit der Keupstraße habe ich kaum noch Berührungspunkte“, sagt sie mit Bitterkeit in der Stimme.

Alles zum Thema Polizei Köln

Einige Wochen nach der Tat saß sie in einem Vernehmungsraum bei der Kölner Polizei. Vier Stunden seien ihr Fragen gestellt worden. „Es gab nie ein Protokoll oder ein Mitschnitt“, wundert sie sich noch heute. Auch ihr Vater sei damals vernommen worden. „Ihr ward es. Sagt uns einen Namen!“ sei ihr Vater immer wieder angeherrscht worden. „Wir haben uns nicht geschützt gefühlt, stattdessen hatten viele das Gefühl: Hauptsache, es waren die Türken“, sagt Sentürk. Psychologische Hilfe sei ihr nie angeboten worden. „Aber genau das hätte ich gebraucht“, ist sie sicher.

Starke Verwüstung: Bei dem Anschlag wurden viele Geschäfte durch die Wuxcht der Explosion stark beschädigt, 22 Menschen waren zum Teil schwer verletzt worden.

Starke Verwüstung: Bei dem Anschlag wurden viele Geschäfte durch die Wuxcht der Explosion stark beschädigt, 22 Menschen waren zum Teil schwer verletzt worden.

Die Frage, warum die Ermittlungsbehörden damals jahrelang keine ausländerfeindliche Tat erkennen wollten, Zusammenhänge zu vergleichbaren Taten nicht beachtet und die Bilder der Verdächtigen nicht bundesweit abgeglichen wurden, konnten schon vor Jahren im NSU-Prozess in München und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen in Berlin und Düsseldorf nur unzureichend beantwortet werden. „Die Wunden von damals haben uns geprägt. Aber die entscheidende Frage ist, was wir in der Stadtgesellschaft tun, damit sich ein solcher Anschlag nicht wiederholt“, sagt Meral Sahin, Vorsitzende der IG Keupstraße. Das virtuelle Mahnmal, das am Sonntag beim „Birlikte“-Fest erstmals in Grundzügen der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll, spielt dabei eine wichtige Rolle.

Im Nachhinein hat sich Ayfer Sentürk vermutlich intensiver mit dem Anschlag befasst als viele andere Menschen. Im Theaterstück „Die Lücke“ des Kölner Schauspiels gehörte sie jahrelang zum Ensemble, las Texte vor und sprach aus ihren Erinnerungen. „Das Stück war für mich wie eine Therapie“, ist sie sich heute sicher. Denn nicht nur bei ihr herrschte bis zur Ausklärung des Anschlags im Jahr 20122 die Sorge vor einer Widerholungstat. Muhammet Ayazgün ist Kurde und erlebte in seiner Heimat mehrfach Bombenexplosionen. „Ich habe gelernt, dass nach einer Explosion immer noch eine zweite folgt. Ich habe Jahre auf den zweiten Anschlag gewartet, viele Menschen in der Straße waren angespannt“, erinnert er sich.

Fremd in der deutschen Heimat

Der Café-Inhaber ist sich noch immer sicher, einen der NSU-Rechtsterroristen unmittelbar vor dem Anschlag in einem Hauseingang nahe des Friseursalons gesehen zu haben. „Er war es definitiv“, sagt er. Doch seine Aussage sei nie von der Polizei aufgenommen worden. Erst 2018 sei er im NSU-Prozess in München zum ersten Mal offiziell befragt worden. „Ich weiß nicht, warum meine Aussage nie aufgenommen wurde, das war alles komisch. Mein Onkel wurde damals verdächtigt, weil er Apotheker war und Zugang zu Chemikalien hatte“, berichtet Ayazgün. Die Verunsicherung sei immens gewesen. „Irgendwann haben ich gedacht: Es war einer von uns. Wir sind Terroristen“, beschreibt er das Misstrauen unter den Geschäftsleuten der Keupstraße.

So erschreckend und brutal die Explosion am 9. Juni 2004 auch war – die größeren Wunden haben bei Ayfer Sentürk die Ermittlungen der Polizei und die öffentlichen Verdächtigungen verursacht. „Es kam das traurige Gefühl auf, immer noch fremd in Deutschland zu sein und nicht dazuzugehören. Obwohl meine Kinder hier zur Schule gehen“, sagt sie. Ihre Eltern kamen in den 1970er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland, der Vater heuerte bei Felten & Guilleaume an, bevor er sein Reisebüro eröffnete.

Die Enttarnung der NSU im Jahr 2011 haben weder Muhammet Ayazgün noch Ayfer Sentürk als Genugtuung empfunden. „Ich war vor allem traurig“, sagt Sentürk. Ähnlich habe sie sich gefühlt, als ihre Tochter einst aus der Grundschule nach Hause kam und fragte: „Mama, was heißt Scheiß Ausländer?“