An der Ermittlungsarbeit der Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße gab es reichlich Kritik. Kölns Kripo-Chef Michael Esser spricht über die Bewertung von Hinweisen.
Nagelbombenanschlag KeupstraßeKölner Polizei verteidigt damalige Ermittlungen trotz schwerer Vorwürfe
Als die beiden Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 tot in einem Wohnmobil gefunden werden und ihre Komplizin Beate Zschäpe erst Bekennervideos verschickt und dann Feuer in ihrer Zwickauer Wohnung legt, hat die Kölner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zum Nagelbombenanschlag in der Keupstraße längst ergebnislos eingestellt. Es ist der Beginn einer schonungslosen Aufarbeitung der Ermittlungen der Sicherheitsbehörden, denn die neonazistische Vereinigung konnte sieben Jahre lang insgesamt neun Morde an Migranten begehen und drei Sprengstoffanschläge verüben.
So auch am 9. Juni 2004 in der Keupstraße. „Das Bekanntwerden des NSU würde ich als einen Einschnitt in der Ermittlungsarbeit bewerten. Das hat zu anderen Formen der Zusammenarbeit zwischen den Behörden geführt“, stellt Kölns Kripochef Michael Esser rückblickend fest. Er war damals schon bei der Kölner Polizei, aber nicht Teil der Ermittlungsgruppe.
Es ist 14.53 Uhr an jenem 9. Juni 2004, als ein Mann mit zwei Tüten in der Hand in der Schanzenstraße vor dem Gebäude des Musiksenders Viva gefilmt wird. Bei dieser Person handelt es sich um Uwe Böhnhardt – dies ist der Stand der Ermittlungen. Nur eine Minute später schiebt Uwe Mundlos – eine Kappe tief ins Gesicht gezogen – ein Damenfahrrad mit aufmontiertem Hartschalenkoffer Richtung Keupstraße. In dem Koffer – so wird es später penibel rekonstruiert – befindet sich eine Gasflasche mit 5,5 Kilogramm Schwarzpulver und 800 Zimmermannsnägeln. Abgestellt wird das Rad vor einem Friseursalon, wo es um 15.56 Uhr zur Explosion kommt. Niemand stirbt, aber 22 Menschen werden zum Teil schwer verletzt.
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Zu den Ungereimtheiten des Anschlagstages gehört eine E-Mail des Landeskriminalamts an mehrere Sicherheitsbehörden mit dem Betreff „terroristische Gewaltkriminalität“. Dieser Begriff wird jedoch noch am selben Tag wieder gestrichen. Auf wessen Anweisung das geschah, konnte nie geklärt werden. Schon am Tag nach dem Anschlag sagt Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) in einem Interview: „Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu.“
Könnte die vorschnelle Festlegung die Polizeiarbeit beeinflusst haben? „Wir haben von Anfang an in alle Richtungen ermittelt und uns nicht direkt festgelegt“, hatte ein leitender Kölner Beamter Ende 2004 geäußert. In der Tat gehören der „Ermittlungsgruppe Sprengstoff“ auch Personen des Staatsschutzes, Sprengstoffspezialisten und klassische Mordermittler an.
Wenn Betroffene des Anschlags heute von ihren Erlebnissen erzählen, kommt die Polizei oft schlecht weg. Aus Opfern seien Tatverdächtige gemacht worden, lautet der Hauptvorwurf. „Der Untersuchungsausschuss hat festgestellt, dass in allen Behörden Fehler gemacht wurden, auch bei uns. Fehler werden immer gemacht, das ist Teil der Arbeitswelt“, meint Kripochef Esser. Grobe Schnitzer oder handwerkliche Fehler seiner Kollegen kann er nachträglich nicht entdecken. „Aber Spuren hätten anders bewerten werden können, dann wäre das Ergebnis vielleicht ein anderes gewesen. Aber das kann uns auch bei anderen Ermittlungen passieren“, sagt er.
Im Kölner Rotlichtmilieu werden damals Nachforschungen angestellt, dem Verdacht von Schutzgelderpressung und Rivalitäten krimineller Gruppen wird nachgegangen. Irgendwann eröffnet die Polizei auf der Keupstraße einen Dönerladen und lässt verdeckte Ermittler Essen servieren. Im Untersuchungsausschuss stellt die SPD-Vertreterin Eva Högl später fest: „Dass wirklich systematisch, gezielt, konzentriert in Richtung fremdenfeindlicher Hintergrund ermittelt wurde, ist nicht ersichtlich.“
Vor allem die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Verfassungsschutz funktioniert offenbar nicht, im Untersuchungsausschuss zitiert der Vorsitzende aus dem Gedächtnisprotokoll eines Beamten, wonach zwischen den Behörden „gegenseitiges Misstrauen“ geherrscht habe. „Vor 20 Jahren war die Polizeiarbeit eine andere als heute. Wir sind heute viel digitaler geworden. Und auch die Zusammenarbeit insbesondere mit Verfassungsschutzbehörden ist heute intensiver als damals“, urteilt Esser. Mehr als sieben Jahre war er Leiter des Kölner Staatsschutzes, schon in dieser Zeit habe er festgestellt, „dass deutlich offener mit Informationen umgegangen wird“. Es habe sich „viel entwickelt“ seit dem Anschlag 2004.
Wer mag, kann die Polizeiarbeit mit einer guten Portion Polemik würzen und zum Beispiel genüsslich die Geschichte von der Vernehmung einer Hellseherin aus München erzählen, die der Polizei Hinweise verspricht hatte, sich dann aber doch als unseriös herausstellt. Man habe nichts unversucht lassen wollen, lautet später die Begründung für den Besuch der Wahrsagerin. Die Verantwortlichen von damals wurmt bis heute der Vorwurf, sich zu sehr auf Mülheim und die Region als Herkunftsort der Tatverdächtigen konzentriert zu haben. Denn mehrfach war der Ermittlungsleiter persönlich nach Nürnberg gereist, wo der NSU in den Jahren zuvor drei türkischstämmige Geschäftsleute ermordet hatte. Doch auch hier habe ein erkennbarer Zusammenhang zum Kölner Anschlag gefehlt, heißt es.
Damals war durchaus bundesweit gefahndet worden, die Explosion in der Keupstraße war Thema in der Sendung „Aktenzeichen XY“. Aber auch das brachte die Ermittlerinnen und Ermittler nicht voran. „Jede Behörde hätte damals Informationen an uns weiterleiten können, das ist aber offenbar nicht passiert“, resümiert Michael Esser.
In mehr als zehn Jahren der Aufarbeitung sind die Machenschaften des NSU bislang Thema in neun Untersuchungsausschüssen – zunächst im Bundestag, dann in acht Länderparlamenten gewesen. Auch im NSU-Prozess, der zwischen 2013 und 2018 stattfindet, wird die Polizeiarbeit akribisch beleuchtet. Einiges würde heute anders laufen, da ist sich Kölns Kripochef sicher. Nicht nur die Zusammenarbeit der Behörden habe sich entwickelt, auch die Qualität der Überwachungskameras und die Digitalisierung der Polizeiarbeit sei heute deutlich besser als im Jahr 2004. Doch Fehler seien nie ausgeschlossen.
Sprengstoff-Abfrage
1999 war das Jahr, bis zu dem eine Abfrage des Landeskriminalamts (LKA) beim „Tatmittelmeldedienst für Spreng- und Brandvorrichtungen“ (TMD) zurückreichte, um nach vergleichbaren Taten zu suchen. Zu kurz, wie sich zeigte.
In der Zentraldatei, die beim Bundeskriminalamt angesiedelt ist,werden bundesweit alle Sprengstoff-Fälle verzeichnet. Aufgelistet sind darin auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die in den 1990er Jahren im Zusammenhang mit Sprengstoff-Delikten aufgefallen sind. Kurz bevor in Jena in einer von Böhnhardt angemieteten Garage vier funktionsfähige Rohrbomben gefunden wurden, ist das Trio im Januar 1998 untergetaucht.
Die Anfrage des LKA war 2004 nach dem Anschlag in der Keupstraße gestellt worden. Die Eingrenzung des Abfragezeitraums wird später seitens der Politik als „verhängnisvoller Fehler“ und als „willkürlich“ bezeichnet. (tho)