Überlebende des Contergan-Skandals sind heute über 60 Jahre alt. An der Uniklinik finden Geschädigte jetzt ein medizinisches Kompetenzzentrum, das sie auch bei psychischen Krankheiten unterstützt.
Kölner Uniklinik bekommt Contergan-Zentrum„Stecken in den Körpern von 80-Jährigen“
Es ist bis heute der folgenschwerste Arzneimittelskandal in Deutschland: Im November 1961 wurde bekannt, dass das Schlafmittel Contergan für Tausende Fehlbildungen bei ungeborenen Kindern im Mutterleib verantwortlich war. Mehr als 60 Jahre später leben in Deutschland noch rund 2200 Contergangeschädigte. An der Kölner Uniklinik bietet ein neues medizinisches Kompetenzzentrum nun passende Hilfe für sie an.
Zehn Zentren gibt es mittlerweile bundesweit, gefördert werden sie von der Conterganstiftung, einer öffentlich-rechtlichen Stiftung des Bundes mit Sitz in Köln. Die medizinischen Kompetenzzentren sind multidisziplinär und untereinander vernetzt, haben aber auch unterschiedliche Schwerpunkte. Der des Kölner Zentrums, beheimatet im Gebäude des Klinkums Weyertal, liegt auf Psychosomatik und Psychotherapie.
„Das seelische Leid der Menschen wurde lange nicht wahrgenommen“, sagt der Leiter des Zentrums, Dr. Alexander Niecke. Er forscht schon seit mehreren Jahren zum Thema der psychischen Gesundheit bei Contergangeschädigten. In einer Studie fand er heraus: Contergangeschädigte Menschen leiden doppelt so häufig unter psychischen Störungen wie etwa Depressionen oder Angststörungen, nehmen aber doppelt so selten eine Psychotherapie in Anspruch, wie Menschen ohne eine körperliche Behinderung. Warum aber wird das hohe Ausmaß dessen erst nach mehr als 50 Jahren wahrgenommen? „Die Behandlung wurde seinerzeit auf die körperliche Behinderung ausgerichtet“, erklärt Niecke. Ein Grund sei auch das fortschreitende Alter der Geschädigten, oft der Eintritt in die Rente. Durch Folgeschäden gebe es häufig einen Verlust von Mobilität und Einschränkungen in der Autonomie.
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Bianca Vogel nimmt die Therapie des neuen Kölner Kompetenzzentrums bereits in Anspruch. In ihrem Leben, erzählt sie, habe sich in den vergangenen Jahren einiges verändert, Verlust und Tod wurden zum Thema für sie. Bianca Vogel kam 1961 als Contergan-Kind zur Welt – ohne Arme und mit Hüftschäden. Lange arbeitete sie leidenschaftlich als Erzieherin in einem Kindergarten in ihrer Heimat Sinzig, auch als Dressurreiterin war sie erfolgreich: 2004 gewann sie bei den Paralympics in Athen zwei Silbermedaillen.
Schlechte Erfahrung mit jüngeren Ärzten gemacht
„Im Leistungssport war ich immer die coole, perfektionistische Frau, auch in meinem Beruf als Erzieherin“, sagt die heute 62-Jährige. „Aber irgendwann kippte dieses Bild bei mir selber, ich war oft traurig und hatte keine Kraft mehr, etwas zu machen.“ Unterstützung fand sie bei Dr. Niecke. Ganz bewusst habe sie nach Ärzten gesucht, die Erfahrung mit contergangeschädigten Menschen haben. „Es ist wichtig, dass Ärzte und Psychologen die Contergan-Geschichte kennen, um die Menschen zu verstehen.“
Denn in der Vergangenheit machte sie mit jüngeren Ärzten gleich mehrmals die Erfahrung, dass diese schlecht informiert waren. „Eine junge Ärztin bei der Corona-Impfung fragte mich, was ich für eine Behinderung habe. Ich sagte ihr, dass ich contergangeschädigt bin. Daraufhin fragte sie mich: Warum haben Sie die Tablette überhaupt genommen?“ Vogel würde sich wünschen, dass der 1961 aufgedeckte Contergan-Skandal auch jetzt noch Thema im Studium sei.
„Es kann unglaublich kränkend sein, in Vergessenheit zu geraten“, sagt Alexander Niecke. Er und sein Team forschen auch zur Lebensqualität von contergangeschädigten Menschen. Vor allem die chronischen Schmerzen, an denen rund 94 Prozent der Betroffenen leiden, seien die Ursache für körperliche, aber auch seelische Leiden. Seit 2017 bietet die Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Uniklinik unter Leitung von Professor Christian Albus deshalb schon eine Contergan-Sprechstunde an. Als Kompetenzzentrum, neben Nümbrecht und Aachen das Dritte im Westen, konnten nun die Kapazitäten für ambulante Psychotherapien ausgebaut werden.
„Wir stecken heute im Körper eines 80-jährigen Menschen. Contergan hat bei vielen auch das Knochengerüst deformiert“, sagt Bianca Vogel. Durch die Folgeschäden kann Bianca Vogel keinen Leistungssport mehr betreiben, auch ihren geliebten Beruf als Erzieherin habe sie aufgeben müssen. „Ich merke, dass ich nicht mehr so belastbar bin. Das macht etwas mit einem. Ich bin froh, dass es dieses Zentrum gibt, ich bin bisher immer unglaublich gestärkt hier wieder herausgegangen.“
Kölner Gefäßstudie zu Conterganschädigungen
Es gibt Hinweise, dass bei Menschen mit Conterganschädigung nicht nur Fehlbildungen an den Extremitäten, sondern auch Varianten von Gefäßen gehäuft auftreten. Eine jetzt in Köln und Ulm anlaufende Studie soll diesen Verdacht qualitativ und quantitativ wissenschaftlich untersuchen.
An der Uniklinik Köln wird die Gefäßstudie vom Radiologie-Professor David Maintz geleitet. Rund 440 Probanden nehmen teil. Untersucht wird außerdem eine Vergleichsgruppe aus der Bevölkerung, die keine Conterganschädigung hat. Endgültige Ergebnisse sollen in rund vier Jahren vorliegen.