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Variante B 117Wie es zu Mutationen des Coronavirus kommt und was sie gefährlich macht

Lesezeit 7 Minuten
Coronavirus Symbol

Eine Frau trägt vor einer Apotheke eine Mund- und Nasenmaske.

Köln – Dass unter der Wahrnehmungsschwelle wahrscheinlich eine virulentere Virus-Variante als die ursprüngliche unterwegs ist, hat Großbritanniens Premierminister Boris Johnson schon ausgesprochen. „Bis zu 70 Prozent ansteckender“ – das war Johnsons Weihnachtsbotschaft kurz vor Heiligabend. Kaum war diese Meldung verbreitet, meldete auch Südafrika Mutationsalarm. Beim eher bedächtig formuierenden Kanzleramtsminister Helge Braun klingt es später so: „Wenn sich auf dem hohen Infektionsniveau, das wir haben, die Mutationen ausbreiten, dann wird es sehr schwer, ein Wachstum der Infektionszahlen überhaupt noch in den Griff zu bekommen.“

Während in Deutschland eine Sieben-Tage-Inzidenz über 200 pro 100 000 Einwohner eine Kommune zum Hotspot macht, liegt dieser Wert in London aktuell bei 1000. Bürgermeister Sadiq Khan hat den „Katastrophenfall“ ausgerufen. Es scheint, als läge Bergamo jetzt in der britischen Metropole:  Rettungswagen mit Corona-Erkrankten stehen vor den Krankenhäusern im Stau, während den Kliniken die Intensivbetten ausgehen. Die Ausbreitung der neuen, ansteckungsaktiveren Virusmutante erfolgt so rasant, dass Gesundheitsminister Matt Hancocks Analyse nur beschreibt, was ohnehin jeder sieht: „Die Lage ist außer Kontrolle.“

Großbritannien analysiert bereits 120 000 Virusproben

So lax Großbritannien zunächst mit der Pandemie umgegangen ist, so akribisch sequenzieren ihre Molekularbiologen von Anfang an das Sars-CoV-2-Virus und alle seine Veränderungen: Während die Briten mit ihrem leistungsfähigen Labor-Netzwerk bereits 120 000 Virusproben analysiert haben, sind es in Deutschland gerade einmal 2000. In Großbritannien wird etwa jede 15. Virusprobe sequenziert, in Deutschland jede 900., weshalb die Handvoll Fälle, in denen die Mutation hierzulande nachgewiesen wurde, eigentlich Alarm bedeuten. In den Niederlanden sind es bereits 50 mit der Mutante Infizierte.

Alles zum Thema Christian Drosten

Seitdem Sars-CoV-2 in den Menschen eingedrungen ist, vermehrt es sich, und weil es ein RNA-Virus ist, gelingen Erbgutkopien selten komplett und korrekt. Fehler über Fehler lassen Mutationen entstehen, bisher etwa 12 000 weltweit, wovon etwa ein Drittel jenes stachelförmige Spike-Protein betreffen, mit dem das Virus über den menschlichen ACE2-Rezeptor in Zellen einzudringen versucht. Dieses Protein ist der Schlüssel, der Rezeptor das Schloss. Insofern feilen viele Mutationsaktivitäten – vereinfacht – am immer perfekter passenden Schlüssel, und die meisten Impfstoffe und Antikörper-Therapien versuchen, ebendieses Schloss für das Virus zu verriegeln.

Es regiert das Zufallsprinzip

Die Virusevolution läuft seit Anfang 2020 auf Hochtouren und folgt dem ehernen Ziel, den eigenen Fortpflanzungserfolg zu optimieren. Faustregel: Je mehr Infizierte, desto größer die Viren-Masse, desto mehr vervielfachen sich die Möglichkeiten zu Mutationen und neuen Eigenschaften. Da regiert aber kein Masterplan im Hintegrund, sondern das Zufallsprinzip.

Vor Monaten, als sich mit D614G schon einmal eine – aus Virus-Gesamtsicht – erfolgversprechende Mutante ausbreitete, dann aber – aus Menschensicht – kein Unheil verursachte, erklärte Charité-Virologe Christian Drosten im NDR-Podcast „Coronavirus-Update“ einmal, wie das Innenleben der evolutionären Lostrommel so funktioniert. Hier und dort entstünden Mutationen in Untereinheiten, „die für sich genommen noch nicht nützlich sind“, und woanders gebe es weitere, die keinen Nutzen versprechen. Manchmal seien sie sogar schädlich für das Virus und oft zumindest störend.

„Dann geht das auf einmal ab“

Aber wenn der Zufall die alle in einer späteren Virus-Generation zusammenstecke, „dann geht das auf einmal ab“, sagt Drosten, dann könne sich auf einen Schlag „ein Riesenselektionsvorteil für diesen neuen Organismus“ ergeben. Aber das steuere niemand. „Die Evolution weiß nicht, dass nach fünf Mutationen plötzlich das Virus anders ist und sich denkt: jetzt aber mal los. Also: Niemand »denkt« sich da was, das sind alles nur statistisch, stochastische Prozesse.“

Der Berliner Sarsvirus-Experte hatte die Weihnachtsbotschaft aus London zunächst skeptisch beurteilt, weil es keine wissenschaftlich fundierten Daten gab. Inzwischen lichtet sich jedoch der Nebel, die Meldedaten von der Insel lassen keinen Zweifel, dass sich gerade eine neue Variante gegen das ursprüngliche Virus durchsetzt. Ein weiterer Datensatz aus Dänemark geht in eine ähnliche Richtung. Wenn sich diese Befunde weiter verdichten, „dann ist das etwas, da muss ich als experimenteller Virologe schon schlucken“, so Drosten. „Da muss ich sagen, so etwas passiert nicht einfach so.“

Was steckt dahinter?

Was genau dahinter steckt, ist (noch) ungewiss. Etwa ein durch Antikörper ausgelöster Selektionsdruck? Oder nur der Zufall, also das Prinzip „Survival of the Fittest“? In extrem aufwendigen Experimenten versucht man zu erkunden, wie das Virus reagiert, wenn es Antikörpern ausgesetzt wird. Wie zeitintensiv solche Laborversuche sind, lässt allein die Zahl 29 903 erahnen: So viele RNA-Buchstaben trägt ein einzelnes Sars-CoV-2-Virus, hat Lucy van Dorp, Computergenetikerin am University College London, gezählt.

RNA-Buchstaben sind in einem Virus so etwas wie die materielle Basis seines Genoms. Einige veränderte oder beim Kopieren verlorene Buchstaben können viel bewirken, etwa eine leichtere Eroberung menschlicher Zellen.

Mehrere Mutationen

Die neuen Seuchen-Gespenster tragen kryptische Namenskürzel: Die englische Virus-Variante heißt B117, die südafrikanische B1351. Beide haben mehrere Mutationen eingesammelt und mit N501Y sogar eine gemeinsame, die mutmaßlich eine biologisch bedeutsame ist, weil sie direkt an jener Spike-Proteinstelle liegt, mit der das Virus am menschlichen ACE2-Rezeptor ankoppelt. Offenbar perfekter als das ursprüngliche Sars-CoV-2-Virus. Das wurde schon in Südafrika durch die neue Kreation so gut wie verdrängt und in England scheint es auf dem besten Weg dazu zu sein.

Auf einer Online-Konferenz des Science Media Center (SMC) Germany türmt sich ein Berg von Fragen, die wenig Aussicht haben, beantwortet werden zu können. Zu frisch ist die „Zusatz-Pandemie“, zu plötzlich steht da eine unbekannte Figur auf dem Seuchen-Schachbrett. Dass die Erkenntnisrate der Forscher der Mutationsrate hinterherhinkt, kann nicht anders sein.

Es braucht Zeit

Was passiert da gerade in London? Die epidemiologischen Daten eilten stets einer molekularbiologischen Analyse voraus, sagt Professor Isabelle Eckerle, Leiterin der Forschungsgruppe neue Infektionskrankheiten an der Universität Genf. „Die beobachtete Virus-Variante hat eine seltsame Dominanz trotz eines strengen Lockdowns“, sagt sie.

Für letzte Gewissheiten brauche es aber viel Zeit, „weil die Dinge nun experimentell im Labor simuliert werden müssen“. Was Eckerle weiß: „Die Bewegungsdaten der Menschen zeigen, dass die Kontaktreduktionen nicht mehr in dem Maße stattfinden wie im Frühjahr.“ Heißt: Die Bürger befolgen die Schutzregeln nicht mehr mit der nötigen Disziplin.

Alles ist denkbar

Alles ist denkbar: Dass die englische Variante gar nicht auf der Insel entstanden ist, sondern eingeschleppt wurde. Dass auch B1351 längst zwischen Aurich und Altötting unterwegs ist: Als Deutschland heimkehrenden Südafrika-Touristen eine Quarantäne auferlegte, planten die kurzerhand um und landeten in Wien oder Amsterdam – und dann weiter per Mietwagen oder Bahn. Alles kein Problem.

Nicht nur Eckerle, auch 299 andere europäische Experten aus Virologie und Epidemiologie sowie angrenzenden Disziplinen wie Ökonomie und Ethik wissen, was zu tun ist. Sie haben schon Tage vor Boris Johnsons öffentlicher Verzweiflung auf Initiative der Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann im Fachmagazin „The Lancet“ ein Positionspapier veröffentlicht. Tenor: Mit den Stop-and-Go-Maßnahmen geht es so nicht weiter, weil alle Teile der Gesellschaft leiden.

Europa muss koordinierter agieren

Forderung: Europas Regierungen müssten den Virus-Weltangriff endlich koordinierter abwehren und einheitlich die Sieben-Tages-Inzidenz pro 100 000 Einwohner auf 7 (statt auf 50, wie in Deutschland beschlossen) absenken, um allen Bürgern wieder mehr Freiheiten gewähren zu können. Das liegt weit, sehr weit weg – einerseits – von den aktuellen Inzidenzzahlen, andererseits auch vom Kritiker-Mantra, die deutsche Corona-Politik sei eine „Virokratie“.

„Das Virus respektiert keine Grenzen“, sagt Priesemann. „So gefährdet eine verstärkte Ausbreitung in einer Region die Stabilität in den angrenzenden Regionen. Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Engagement.“

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Auf der SMC-Online-Konferenz spricht Andreas Bergthaler, Leiter der Forschungsgruppe Virale Pathogenese an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, über die heutigen Wissenslücken von einem „Luxusproblem gegenüber der Situation 1918/19“, als die Spanische Grippe wütete.

Er betrachtet die Mutationen aus England und Südafrika „als Weckruf“. Es würden weitere Varianten kommen, „die Dynamik wird anhalten. Erschreckend ist die Impfskepsis.“ Die entscheidende Frage sei jetzt: „Wie können wir die Bevölkerung weiter motivieren?“ Ihr den Ernst der Lage zu vermitteln, sei eine Frage der – transparenten – Kommunikation.