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Rundschau-Debatte des TagesUmgang mit Corona – Haben es die Schweden doch besser gemacht?

Lesezeit 6 Minuten
FFP2-Masken hängen an einer Türklinke.

War die Herangehensweise der Skandinavier sinnvoller, als zunächst gedacht?

Beim Umgang des Landes mit der Pandemie gingen die Meinungen auseinander. Sogar Schulen und Kitas blieben bei hohen Fallzahlen geöffnet.

In der Corona-Pandemie stand Schweden lange am Pranger: Kein Lockdown, weder Impf- noch Maskenpflicht und in der ersten Welle sehr viele Tote. Aber der viel kritisierte schwedische Sonderweg führte nicht in die Katastrophe. War die Herangehensweise der Skandinavier sinnvoller, als zunächst gedacht?

Die Haltung zur schwedischen Corona-Politik war eines der Reizthemen der Pandemie. Befürworter einer strikten Eindämmungspolitik, die auch hierzulande ein Massensterben befürchteten, brachte der coole Umgang der Schweden mit dem Virus zur Weißglut. Für Gegner harter Corona-Maßnahmen war Schweden dagegen der Sehnsuchtsort der Freiheit, ein Vorbild an Gelassenheit. Zumal angesichts einer deutschen „Corona-Hysterie“, die nicht nur Querdenker wahrnahmen, sondern auch Fachleute wie Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung KBV.

Am kommenden Samstag jährt sich der erste deutsche Corona-Fall zum vierten Mal. Grund genug für einen Rückblick und den Versuch einer Antwort auf die Frage: War der schwedische Sonderweg jetzt mutig und klug – oder war das ein leichtsinniger und fataler Irrweg?

Alles zum Thema Christian Drosten

Situation an Schulen und Kitas

Die Antwort sei „noch immer schwierig“, sagt Thomas Fischbach (65). Der Kinder- und Jugendarzt und langjährige Präsident des Pädiater-Berufsverbandes BVKJ gehörte zu denjenigen, die als erste und am lautesten die langen Kita- und Schulschließungen in Deutschland kritisiert hatten. Hierzulande galten die Kleinsten von Beginn an als größte Brandbeschleuniger der Pandemie, was durch eine inzwischen viel kritisierte Studie von Charité-Virologe Christian Drosten unterfüttert worden war.

In Schweden sind Kitas und Grundschulen selbst während der heftigsten Virus-Wellen offen geblieben, und es gab auch nie eine Maskenpflicht. Und trotzdem: Sieht man sich die Daten zur Übersterblichkeit an, so hatte Schweden in den Jahren 2020 bis 2022 die geringste Übersterblichkeit unter allen EU-Ländern!

Lassen sich die Sterbefälle vergleichen?

Aber Vorsicht: „Schaut man sich die Zahl der nachgewiesenen Covid-Sterbefälle an, so steht Schweden schlechter da als Deutschland oder Norwegen“, sagt Fischbach. Gerade in der ersten Welle drohte die Corona-Lage auch in den wenigen schwedischen Ballungsräumen zu eskalieren.

Auch in Schweden geriet der Vater des Sonderweges, Staatsepidemiologe Anders Tegnell, heftig unter Druck. „All diese Zahlenvergleiche haben ihre Tücken, denn es ist überhaupt nicht klar, wie viele Corona-Tote tatsächlich an der Infektion gestorben sind oder an ihrer Grunderkrankung – also mit statt an Corona“, sagt Fischbach. Sein Fazit heute, nachdem die dramatischen Lockdown-Folgen gerade für Kinder und Jugendliche sichtbar geworden sind: „Niemand sollte mehr mit dem Finger auf die schwedische Pandemiebekämpfung zeigen.“

So sah Karl Lauterbach Schwedens Weg

Zu denen, die mit dem Finger nach Stockholm zeigten, gehörte auch Karl Lauterbach. Im Dezember 2020 postete der heutige Bundesgesundheitsminister auf Instagram: „Schweden zeigt, wie verheerend falsche wissenschaftliche Beratung in der Coronapolitik sein kann. Tegnell lag fast immer falsch. Und das sehr selbstbewusst. Erstaunlich, dass er noch im Amt ist. Einen ehrenvollen Rücktritt hätte ihm niemand vorgeworfen ...“ Unsere Anfrage, wie er heute nach Stockholm blickt, ließ Lauterbach unbeantwortet.

Einer, der immer Sympathie für den schwedischen Weg hatte, ist Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. Die Schweden hätten „keineswegs“ alles falsch gemacht, sagt er heute. „Schweden hat vieles richtig gemacht. Und das war von Anfang an mein Punkt: Die Freiheitsbeschränkungen haben hohe Folgekosten zum Beispiel in der Schulbildung. Und diese wären zu einem erheblichen Teil mit mehr Risikodifferenzierung und Schutzkonzentration auf Alte und Kranke vermeidbar gewesen.“

Klaus Stöhr, Virologe und Ex-Direktor der Weltgesundheitsorganisation WHO, reagiert noch heute geradezu pampig auf die Frage nach den Fehlern der Schweden: „Die Frage, ob Schweden völlig falsch lag, impliziert fälschlicherweise, dass man dort in der Mehrzahl der Entscheidungen daneben lag“, sagt er.

Mechanismen der Seuchenbekämpfung

Er dreht den Spieß um: „Ich würde eher fragen: Warum folgte man in Schweden den bereits vor der Pandemie bekannten Mechanismen der Seuchenbekämpfung und negierte davon so viel in den meisten anderen Ländern?“ Was Stöhr damit vor allem meint: Das Virus zu stoppen, was in Deutschland viele versuchten, ist schlicht unmöglich.

Zur komplizierten Wahrheit gehört, dass es in Schweden kaum Ballungszentren gibt. Dafür herrscht eine andere Gesellschaftsstruktur vor, mit eher weniger engen Kontakten unter Kindern, Eltern und Großeltern und somit geringerer Ansteckungsrisiken als etwa in Italien.

Freiwilligkeit statt Zwang

Zur komplizierten Wahrheit gehört auch, dass es zwar nie einen verordneten Lockdown gab, dass das Land aber mehr oder weniger freiwillig „ziemlich nah dran“ war am Lockdown, wie der damalige Generalsekretär der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften, Göran Hansson, im Frühjahr 2021 festhielt. Es wurden auch Masken getragen. Und beim Impfen sind die Quoten den unseren ziemlich ähnlich, allerdings ohne den massiven Druck, den Politik und weite Teile der Medien und der Wissenschaft in Deutschland aufgebaut haben.

Man könnte es vielleicht so beschreiben: Die Schweden haben vieles freiwillig gemacht, wozu die Menschen in Deutschland gezwungen wurden. Als Beweis, dass Impfen, Masken und Kontaktreduzierungen überflüssig waren, taugt der schwedische Sonderweg nicht.

In einem ganz zentralen Punkt haben es die Schweden aber nachweislich besser gemacht: Es wurden keine Kitas und Grundschulen geschlossen, es wurden keine Spielplätze abgesperrt. In Schweden ist die Corona-Katastrophe ausgeblieben. In Deutschland sind die Lockdown-Schäden, die bei der Jugend angerichtet wurden, nicht zu verleugnen.

Was meinen Sie? War der schwedische Weg der richtige Umgang mit Corona? Bitte schreiben Sie uns:

Dialog@kr-redaktion.de, Kölnische Rundschau

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Montgomery: Glaube an Vernunft der Menschen war falsch

Frank Ulrich Montgomery war in den Debatten während der Pandemie einer von denen, die am eindringlichsten vor einem freien Verlauf des Corona-Virus gewarnt haben. Die Liste von Montgomerys Warnungen war lang: Er rügte den damaligen Gesundheitsminister, kritisierte niedersächsische Richter, als sie die 2G-Regelung stoppten, wetterte gegen eine „Tyrannei der Ungeimpften“, stemmte sich gegen die Öffnung von Schulen und Kitas und forderte gleich mehrfach einen „Lockdown“. Montgomery (71), von 2019 bis 2023 Vorsitzender des Weltärztebundes, setzte – ganz anders etwa als Kassenärztepräsident Andreas Gassen – auf Zwang statt Freiwilligkeit.

Dass er auch an die Vernunft appellierte, habe sich nicht ausgezahlt, sagt er heute: „Der Glaube an die Vernunft der Menschen war falsch. Das Gegenteil ist oft passiert. Man wollte lieber absurden Wissenschaftstheorien und kruden Verschwörern glauben, als sich auf die Wissenschaft zu verlassen.“ Unter den Befürwortern einer allgemeinen Impfpflicht war Montgomery einer der Lautesten – sogar für Kinder. Seine Begründung: Die Impfung schütze vor Infektionen, habe aber kaum Nebenwirkungen.

Hier gibt sich Montgomery inzwischen selbstkritisch: „Meine Aussage, die Impfung habe so gut wie keine Nebenwirkungen, war falsch.“ Zwar seien die möglichen Nebenwirkungen minimal im Vergleich zu den Auswirkungen einer ungebremsten Infektionswelle – aber „mit dieser Aussage hilft man niemandem, der an Nebenwirkungen leidet – oder glaubt, zu leiden“, sagt er heute. Trotzdem sind die Impfungen für Montgomery ein Erfolg, sie hätten weltweit Millionen Menschen das Leben gerettet.