Die Deutschen fühlen sich unfrei und haben zudem wenig Vertrauen in den Staat und auch in Medien. Welche Gründe es dafür gibt und was dagegen getan werden kann, erläutert der Journalist und Medienwirkungsforscher Roland Schatz.
Rundschau-Debatte des TagesWarum misstrauen viele Bürger dem Staat?
Ob Corona, Migration oder Gendern: Viele kontroverse Themen treiben die Deutschen um. Und oft scheinen Antworten von Politikern und Medien eher noch Unsicherheiten zu schüren, erklärt Medienforscher Roland Schatz im Interview. Warum ist das so? Und was könnte dagegen helfen?
Herr Schatz, Sie bringen mit Ihrem Forschungsinstitut Media Tenor jedes Jahr in Zusammenarbeit mit dem Institut für Demoskopie Allensbach den Freiheitsindex heraus. Seit wann gibt es diesen Index und was genau messen Sie?
Den Index gibt es seit 2011, doch Media Tenor ist bereits seit den 1990er-Jahren aktiv. Tatsächlich sind einige der Fragen, die wir im Index aufgenommen haben, noch älter: Die Daten zur Meinungsfreiheit fragt Allensbach seit 1953. Im Kern wollen wir Antworten auf zwei Fragen geben: Wie frei fühlen sich die Bürger? Und inwiefern wird ihr subjektives Freiheitsempfinden von den Leitmedien positiv oder negativ beeinflusst?
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Könnten Sie kurz die Ergebnisse skizzieren?
Da gibt es einige. Zum Beispiel sagten nur 35 Prozent der Deutschen, dass sie dem Staat vertrauen. In der Schweiz sind es fast doppelt so viele. 41 Prozent der Bundesbürger sind mittlerweile sehr vorsichtig, was Meinungsäußerungen angeht. Generell sagen 52 Prozent der Deutschen, dass sie sich frei fühlen. Für ein freies Land mit einer funktionierenden Demokratie und auf dem Papier gesicherten Freiheitsrechten sollten die Ergebnisse klar über 70 Prozent liegen.
Aus liberaler Sicht wird oft beklagt, dass die Deutschen zu staatsgläubig seien. Ihre Analyse kommt zu einem anderen Schluss: Nur ein Drittel der Bundesbürger vertraut dem Staat. Könnte man positiv formulieren, dass die Deutschen kritischer sind als gedacht?
Beim Vertrauen in Staat und Medien zerreißt es uns gerade. Lenin soll gesagt haben, dass es mit einer Revolution in Deutschland nie etwas wird, weil sich die Deutschen noch eine Bahnsteigkarte kaufen würden, bevor sie einen Bahnhof stürmten. Da ist sicherlich etwas dran. Doch die Merkel-Jahre haben bei vielen Bürgern zu einem Bruch geführt. Wenn eine ganze Nation eineinhalb Jahrzehnte lang hört, dass alle politischen Entscheidungen alternativlos sind, dann erzeugt das irgendwann Widerstand. Ob Bankenrettung nach der Lehman-Pleite, der Griechenland-Bailout, Flüchtlingskrise oder Corona-Maßnahmen – das soll alles alternativlos gewesen sein? Das glauben die Menschen nicht. Dass die Ex-Kanzlerin ihr Buch ausgerechnet mit dem Titel „Freiheit“ publiziert, hat schon etwas von Zynismus.
Welche Rolle spielen die Medien in diesem Prozess?
Corona hat vieles offengelegt. Besonders zu Beginn der Pandemie waren die Menschen sehr verunsichert. In dieser Zeit waren sie darauf angewiesen, von den Medien, und insbesondere von den öffentlich-rechtlichen Sendern, klar und umfassend informiert zu werden. Und was bekamen sie? Keine unabhängige Berichterstattung, sondern einen Staatsfunk, der die politischen Entscheidungen nicht kritisch hinterfragte, sondern lediglich verkündete, wie der ehemalige Heute-Journal-Moderator Claus Kleber sagte.
Das ist in dieser Form nicht richtig. Es gab zahlreiche kritische Köpfe, viele Entscheidungen wurden sehr kontrovers diskutiert.
Ja, in den privaten Printmedien, aber nicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Abweichende Meinungen haben dort fast keinen Raum bekommen. Wir haben ausgewertet, wie häufig welche Virologen in welchen Sendungen im ÖRR wie oft zu Wort kamen. Beim Vergleich zwischen Christian Drosten und dem deutlich Lockdown-kritischeren Hendrik Streeck stellten wir zum Beispiel für die Tagesschau fest: Drosten kam in über 95 Prozent der Berichte vor, Streeck nur in 5 Prozent. Das ist nur eines von vielen Beispielen. Claus Kleber hat ja selbst gesagt, dass die Öffentlich-Rechtlichen in den ersten Monaten der Pandemie die Rolle von Regierungssprechern eingenommen haben. Dadurch haben viele Bürger das Vertrauen in die Medien verloren. Das könnte man durch eine ehrliche Aufarbeitung zurückgewinnen. Doch die findet einfach nicht statt. Übrigens ist Corona keine Ausnahme, es gibt zahlreiche andere Bereiche, in denen sich die Menschen in der ÖRR-Berichterstattung nicht wiederfinden.
Welche wären das?
Nehmen Sie zum Beispiel das Gendern. Nach Allensbach lehnten vor zehn Jahren über 70 Prozent aller Deutschen das Gendern ab, nur 20 Prozent akzeptieren es. Diese Ablehnung zieht sich durch alle Altersgruppen, Geschlechter und Parteizugehörigkeiten. Es gab keine Bevölkerungsgruppe in Deutschland, die das Gendern mehrheitlich gut findet, nicht einmal junge, weibliche Grünen-Wähler. Trotzdem zwängen die öffentlich-rechtlichen Medien es ihren Zuschauern und Zuhörern nahezu auf. Auch das führt dazu, dass viele Menschen das Gefühl haben, dass ihre Meinung im ÖRR kaum vorkommt. In Ostdeutschland ist es besonders schlimm, dort fühlen sich nur 13 Prozent der Bürger von den öffentlich-rechtlichen Medien vertreten. Das kommt einem Offenbarungseid für ARD und ZDF gleich. Solch dramatische Lücken können früher oder später das Ende der repräsentativen Demokratie bedeuten. Wenn die Bürger sich nicht mehr gespiegelt fühlen, dann wählen sie extrem.
Woran liegt es, dass im ÖRR eine solche Schieflage zwischen inhaltlicher Ausrichtung und Zuschauerbedürfnis entstehen konnte?
Meiner Meinung nach liegt das an der Personalpolitik. Es wird bei ARD und ZDF nicht sonderlich auf Vielfalt im Meinungsspektrum geachtet. Und die Menschen, die dort arbeiten, sehen sich eben mit einem besonderen Erziehungsauftrag gesegnet. Natürlich fällt das besonders bei den gesellschaftlichen Streitthemen auf, aber man sieht es auch beim Thema Wirtschaft. Die wenigsten Leute dort haben ein abgeschlossenes BWL-Studium. Deswegen besteht die Wirtschaftsberichterstattung zu 70 oder 80 Prozent aus rot-grüner Industriepolitik, Ordnungspolitik findet dort kaum statt. Auch hört man viel zu wenig vom Mittelstand, von kleinen Betrieben oder den Tausenden Hidden Champions, die wir in Deutschland haben. Deswegen ist die Berichterstattung realitätsverzerrend. Und zugleich viel zu negativ.
Sie haben untersucht, wie sich die AfD-Berichterstattung auf die Umfragewerte der AfD auswirkt. Dabei kommen Sie zu einem erstaunlichen Ergebnis: Je mehr über Sachpolitik gesprochen wird, desto niedriger die AfD-Werte. Wie erklären Sie sich das?
Das ist keine neue Erkenntnis. Dasselbe Phänomen gab es schon damals mit der PDS. Die Partei war in aller Munde, aber es wurde kaum berichtet, was sie eigentlich will. Damit war sie für eine gewisse Zeit sehr erfolgreich. Dabei spielt es übrigens keine Rolle, ob die Berichte positiv oder negativ sind. Über die AfD wird zumeist negativ berichtet, trotzdem eilt sie von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. In den ersten Monaten dieses Jahres, vor der Europawahl, haben ARD und ZDF in erster Linie über AfD-Sachpolitik berichtet: Vertritt die Partei russische Interessen, wie ist die Haltung zu China, wie sieht es mit Sozialpolitik aus und so weiter. Die Umfragewerte der Partei gingen runter. Nach der Europawahl änderte sich die Berichterstattung und es ging wieder um die üblichen Themen, um ein AfD-Verbot oder die Frage, wie eine extremistische Partei so erfolgreich sein kann. Und schon gingen die Werte wieder hoch. Es ist erstaunlich: Angesichts der Sorge, die viele um unsere Demokratie haben, wundere ich mich wirklich, warum dieser Aspekt bislang so kaum diskutiert wird.
Das Interview führte Carsten Korfmacher, es erschien zuerst in der „Schwäbischen Zeitung“.