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Gürzenich in KölnBühnenstück „Die Nacht von Sevilla“ feiert Premiere - in den Köpfen der EM-Stars

Lesezeit 4 Minuten
Peter Lohmeyer sitz auf der Bühne im Gürzenich.

Peter Lohmeyer im Gürzenich.

Das Stück erzählt die Geschichte des wahnwitzigen WM-Halbfinals zwischen Deutschland und Frankreich am 8. Juli 1982 - inklusive Horror-Foul von Toni Schumacher.

Der Fußball kann so manche Funktion im Leben einnehmen: Er dient als Ablenkung, als Sehnsuchtsort für nationale Gefühle oder als großes Theater für die Massen. „Theatre of dreams“ nennen die Fans von Manchester United ihr Stadion „Old Trafford“. Manchmal sind Stadien jedoch Theater der Alpträume, vor allem für die Protagonisten. Die Spieler erleben Druck, Angst oder tiefe Löcher, in die man nach dem Spiel fällt. Oder man befindet sich „im Tunnel“, wie es neudeutsch heißt. Harald „Toni“ Schumacher befand sich am 8. Juli 1982 in einem solchen, als er seinen französischen Gegenspieler Patrick Battiston beim WM-Halbfinale schlimm foulte. Rund um dieses Ereignis, sowie um ein wahnwitziges Fußballspiel, geht es im Bühnenstück „Die Nacht von Sevilla“, das aktuell in verschiedenen Theatern in Deutschland aufgeführt wird. Am Dienstag gastierte das Werk von Manuel Neukirchner im Gürzenich – mit den Darstellern Peter Lohmeyer und Toni Schumacher.

Toni Schumacher

Toni Schumacher

Wie kann man ein solches Fußballdrama, inklusive Nachspielzeit und Elfmeterschießen, auf die Bühne bringen? Peter Lohmeyer sitzt alleine an einem Tisch, umrahmt von Mikrophonen aus den 80er Jahren, Bildsequenzen aus der Zeit sowie Lichtinstallationen. Der 62-Jährige übernimmt in seinem Monolog, der das Spiel und seine Folgen umrahmt, gefühlt rund 50 Perspektiven und Rollen ein. Französische und deutsche, von Fußballern und Reportern, von Trainern und Begleitern des Spiels. Er versetzt sich jeweils in die Gedankenwelt des Charakters und spricht laut aus, was der Person durch den Kopf geht.

So beginnt das Stück im Kopf von Marius Trésor und Schumacher – im jeweiligen Dialekt oder Akzent. Im breitesten Kölsch erfährt der Zuschauer: „Mer stehe unter d‘r Schutz von Maria“. So schießt es Schumacher durch den Kopf, als er die Kabine im Stadion von Sevilla betritt. Lohmeyer beweist großes Sprachtalent – egal ob schwäbisch, bayrisch oder französisch, der 62-Jährige springt gekonnt von Rolle zu Rolle und gibt einen Einblick in das Innenleben von Sportlern, die einer riesigen Aufgabe gegenüberstehen.

Ich fühle mich wie um 5 Uhr morgens auf den Champs Elysées – keiner der mich stört. Dann nähert sich mir etwas Ungeheuerliches.
Im Kopf von Patrick Battiston

Der erste Höhe- und Wendepunkt erwartet die Zuschauer in Minute 57 – wir befinden uns im Kopf von Patrick Battiston, der alleine auf das von Schumacher gehütete Tor zuläuft: „Ich fühle mich wie um 5 Uhr morgens auf den Champs Elysées – keiner der mich stört. Dann nähert sich mir etwas Ungeheuerliches.“ Dieses Etwas ist Toni Schumacher, der in persona noch hinter der Bühne ausharrt, und erst am Ende zum Einsatz kommt. „Isch muss den Ball krieje, ejal wie!“, denkt der Kölner Keeper. Daraufhin kommt es zum folgenschweren Zusammenprall. „Habt ihr diesen Torwart gesehen? Er ist verrückt!“, schießt es dem französischen Trainer Hidalgo durch den Kopf. Lohmeyer schafft es, die Spannung in Worte zu fassen. Manche Aussagen sind verbrieft, andere sind schlicht Gedankenkonstrukte aus der Feder von Manuel Neukirchner. Oft urkomisch, oft erschreckend gestalten sich die vielen Reaktionen auf die Tragödie. Battiston hat zwischendurch keinen Puls, ist nicht ansprechbar und erst nach dem Spiel wieder bei Sinnen.

„Alles wird joot, Mann, steh doch auf“

Unter den Augen und Ohren der Theatergäste, darunter Wolfgang Overath und WDR-Intendant Tom Buhrow, wird der gefallene Held Schumacher von den französischen Vertretern des Spiels erst ungläubig bestaunt, dann verachtet. Verständlich, denn Schumacher kümmert sich nicht um den bewusstlosen Battiston. „Alles wird joot, Mann, steh doch auf“, geht es dem Kölner Torwart durch den Kopf. Man leidet mit beiden – der Zuschauer stellt sich die Frage, wie er selbst wohl hier reagiert hätte.

Das Spiel geht weiter, unerbittlich. Am Ende drehen Klaus Fischer und der eingewechselte Rummenigge („Rümmenisch!“) das Spiel zu Deutschlands Gunsten. Aus französischer Verzweiflung wird Zorn, aus dem Bangen beim Elfmeterschießen wird Hass auf die Deutschen, die ihrerseits in der Presse ironischerweise ihre „Goldjungen“ feiern.

Die Nacht von Sevilla: Zwischen Begeisterung und Abscheu

Der Zuschauer ist hin- und hergerissen zwischen Begeisterung für das schöne Spiel und Abscheu für die nationalen Reaktionen nach dem Spiel. Es ist ein Lehrstück dafür, wie der Sport überhöht werden kann, wie trotz einer jungen Freundschaft zwischen zwei Ländern Hass und Misstrauen ihren Weg wiederfinden. Die französische Presse veröffentlicht Rachefantasien, Schumacher reagiert auch nach dem Spiel unglücklich.

Wie in einem klassischen griechischen Drama folgt die Katharsis, die Reinigung: Schumacher betritt für die letzten 15 Minuten die Bühne und erklärt sich 42 Jahre nach dem Ereignis. Nervös wackelt er mit den Beinen, während er in einem Monolog ehrliche Worte findet: „Brutal war ich immer nur zu mir selbst. Ich gebe zu, dass ich immer wieder so aus dem Tor kommen würde – ohne ihn verletzen zu wollen. Aber heute würde ich zu Battiston gehen und mich um ihn kümmern. Vielleicht war ich feige.“ Der damals so genannte „hässliche Deutsche“ Schumacher wirkt menschlich und reuevoll. Dafür gibt es Applaus – und es bleibt angesichts eines der spannendsten Spiele der WM-Geschichte die Hoffnung, dass den Protagonisten der Fußballbühne der Druck künftig nie mehr so zu Kopfe steigt, wie an jenem Abend des 8. Juli 1982. Denn am Ende stehen Menschen auf dem Platz - und keine makellosen Helden.