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Rundschau-GesprächBernhard Seiger und Robert Kleine zur Zukunft der Kirchen

Lesezeit 10 Minuten
Eine Playmobil-Kirche steht im Büro von Stadtdechant Robert Kleine (r.) – inklusive Luther-Figur. Für Kleine und Bernhard Seiger (l.) ein Sinnbild der gelebten Ökumene.

Eine Playmobil-Kirche steht im Büro von Stadtdechant Robert Kleine (r.) – inklusive Luther-Figur. Für Kleine und Bernhard Seiger (l.) ein Sinnbild der gelebten Ökumene.

Eine „Mitgliedschaftsuntersuchung“ unter Christen zeigt, die Bindung zu den Kirchen schwindet. Stadtsuperintendent Bernhard Seiger (ev.) und Stadtdechant Robert Kleine (kath.) im Gespräch dazu.

Herr Seiger, Herr Kleine, Sie gehören in Ihren Konfessionen gerade noch zu 39 beziehungsweise 40 Prozent der Mitglieder nämlich zu denen, die sich der Kirche verbunden fühlen, auch wenn sie vielen Dingen kritisch gegenüber stehen. Noch drastischer: Nur noch 4 Prozent (katholisch) beziehungsweise 6 Prozent (evangelisch) bezeichnen sich als gläubiges und der Kirche eng verbundenes Mitglied. Was lösen diese Prozentzahlen bei Ihnen aus?

Kleine: Das hat mich persönlich schon erschreckt. Natürlich wusste ich immer um die zahlenmäßige Differenz zwischen den Kirchenmitgliedern und denen, die den Gottesdienst besuchen. Im Erzbistum Köln sind rund fünf Prozent der Kirchenmitglieder auch Kirchgänger. Aber ich dachte immer, über diese Zahl hinaus gibt es Menschen, die vom Glauben an Gott getragen werden. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch die Chance, alle die, die noch Kirchenmitglied sind, zu erreichen damit sie sich wieder aufgehoben fühlen in der Kirche.

Seiger: Bei genauem Nachdenken ist sie nicht verwunderlich. Wir kennen doch die Mitgliedszahlen in den Gemeinden und wissen, wie viele Besucher wir in den Gottesdiensten haben. Es ist eben nicht mehr selbstverständlich, dass der Glaube fest. Es ist vielmehr ein Suchen da. Und dieses Suchen kommt in dieser Umfrage auch zum Ausdruck. Aber was heißt denn eigentlich „fest im Glauben stehen“? Bedeutet das ein Zustimmen zu Dogmen, die in der Kirchengeschichte mal Bedeutung hatten? Ein solches vollmundiges Bekennen vertreten wir beide hier doch auch nicht. Heute muss es vielmehr darum gehen, wie wir in dieser verrückten Zeit mit ihren Veränderungen, Gott finden können. So wie ich Kirche verstehe, sind wir eine Suchgemeinschaft, hoffentlich offen für den Himmel.

Also ist die Studie gar nicht so niederschmetternd, wie Ihre Zahlen auf den ersten Blick glauben machen?

Kleine: Die Studie ist facettenreich. Es gibt Kirchenmitgliedschaft verbunden mit einem Glauben, der sich auch in der Gemeinschaft zeigt. Es gibt Menschen die sagen, ich glaube, aber dafür bedarf ich nicht der Kirche. Und es gibt die Menschen, die sagen rundweg „Gott spielt für mich keine Rolle“. Unser Ansporn muss sein, als Kirche so auszustrahlen, dass wieder mehr Menschen Appetit auf die Frage nach Gott bekommen. Wir sind Christen und Christinnen. Es geht also um Jesus Christus und nicht um die Struktur der Kirche. Die Herausforderung ist also, wie kann ich Christus den Menschen näherbringen. Das ist unsere Chance, auch wenn es nicht die ganz große Wende bringen wird.

Seiger: Es gibt mehrere positive Botschaften in der Studie. Zu einen ist eine große Menge von Menschen weiterhin in der Kirche, auch wenn sie nicht zu der Kerngruppe gehören. Die haben also immer noch ein Grundverständnis davon, was wir als Kirche tun: Diakonie, Seelsorge und Lebensbegleitung. Dort können wir anknüpfen. Dabei müssen wir uns an den Bedürfnissen der Menschen orientieren. Was wir ja auch schon tun mit Taufesten und Pop-up-Hochzeiten. Mit unseren Angeboten müssen wir niederschwellig erreichbar sein. Deshalb gründen wir Anfang kommenden Jahres eine Kasualagentur. Unser Marketing muss besser werden. Vor allem im digitalen Bereich, wo wir junge Menschen erreichen können.

Was ist mit den Ausgetretenen?

Seiger: Die haben noch eine Grundlegung bei uns. Sie sind getauft, erinnern sich vielleicht noch an die Jugendarbeit. Dort können wir wieder anknüpfen. Wie sollten künftig nicht mit der Frage unterwegs sein, wer ist Mitglied bei uns und wer nicht.

Doch wie weit kann das Zugehen auf die Bedürfnisse gehen? 77 Prozent von ihnen wünschten sich von Kirche, sie möge sich nicht so sehr auf ihre Gottesdienste konzentrieren. Aber sind Gottesdienste nicht das Kerngeschäft der Kirchen?

Seiger: Da möchte ich nachfragen: Von welcher Art Gottesdienste reden wir? Was wir vor wenigen Wochen mit dem Schweigegang vom Dom zur Synagoge in Gedenken an die Opfer Israels durch den Terrorangriff der Hamas gemacht haben, war für mich ein Gottesdienstformat. Auch wenn der Schweigegang nicht die Überschrift Gottesdienst hatte, so waren doch viele gottesdienstliche Elemente vorhanden: Wir haben als Kirchen eingeladen, wir waren gemeinsam unterwegs, wir haben geschwiegen, wir haben mit einem Gebet und einem Segen abgeschlossen. Es war etwas tief Religiöses. Die Menschen haben das gespürt. Ich habe danach oft gehört: Ihr habt für diesen bitteren Anlass die richtige Form gefunden. Die richtige Form finden, das gilt in allen Lebensbereichen: Wenn ein Stadtteilfest gefeiert wird, müssen wir das nicht unbedingt mit einem Gottesdienst eröffnen, wir können auch einfach nur mit einem Stand dabei sein. Es geht darum zu zeigen, dass Kirche da ist.

Kann die katholische Kirche mit ihrer Messe da noch mitgehen?

Kleine: Es ist ja keine Auflösung unseres innersten Kerns. Hierbei muss es doch um die Frage gehen, wie ich als katholische Kirche ein glaubwürdiges und hilfreiches Zeugnis von der Hoffnung geben kann, die uns trägt. Also von Jesus Christus und seiner Frohen Botschaft. Dazu laden wir zum einen am Sonntag in Form von Gottesdiensten ein. Zum anderen muss ich mich als Priester fragen: Wie können wir das, was in der Liturgie gefeiert wird, in allen Lebensbereichen deutlich machen? Das tun wir in besonderer Weise, indem wir uns in das soziale Leben vor Ort einbringen, ganz besonders über die karitativen Dienste. Deshalb dürfen wir natürlich nicht von der Liturgie lassen. Für mich persönlich ist gerade die Messfeier immer eine Kraftquelle und diese Erfahrung wünsche ich jeder und jedem.

Seiger: Auch strahlt der Gottesdienst über die Teilnehmer hinaus aus. Gottesdienst ist wie ein Feuer, an dem die Menschen sich erwärmen und diese Wärme danach an andere weitergeben. Unsere Gottesdienstbesucher sind also Multiplikatoren.

Die Entscheidungsmacht von ehrenamtlichen Laien ist in ihren beiden Kirchen unterschiedlich ausgeprägt. Umso erstaunlicher ist es, dass sowohl 76 Prozent der befragten evangelischen Christen wie auch 84 Prozent der befragten katholischen Christen sagen, Ehrenamtliche brauchen mehr Entscheidungsbefugnisse. Herr Kleine, ist das für Sie zukunftsweisend? Und Herr Seiger, fühlen Sie sich als Vertreter einer presbyterialen Kirche da nicht missverstanden?

Kleine: Zuerst einmal spricht daraus etwas sehr Positives, nämlich, dass es nicht wenige Menschen gibt, die sich ehrenamtlich in unserer Kirche engagieren. Wir brauchen eine Kultur, die Lebendigkeit ermöglicht. Es gibt zurzeit Überlegungen in unserem Erzbistum, dass es in den großen Strukturen der neuen Pastoralen Einheiten, in denen der leitende Pfarrer nicht mehr überall alles im Blick haben kann, Gemeindeteams geben wird und dass eine gewisse Verantwortung für einen Kirchort auch in die Hände von Ehrenamtlichen gelegt wird. Vielleicht ein bisschen spät, aber wir sind dabei, dem Wunsch der Befragten zu entsprechen. Dazu gehört dann auch, dass man den Teams Kompetenzen, Ressourcen und Freiheiten gibt und Vertrauen hat. Der Pfarrer ist dann eher ein Moderator und Ermöglicher anstatt immer der Bestimmer, Einschränker oder „Erlauber“.

Seiger: Ich kenne das gar nicht anders. Ich bin in keinem einzigen Gremium der Bestimmer (lacht). Ich bin höchstens der Moderator und Impulsgeber in einem Meinungsbildungsprozess. Ich glaube, dieses Befragungsergebnis kommt auch dadurch zustande, dass viele gar nicht wissen, wie das in der evangelischen Kirche funktioniert. Die Laien bestimmen wesentlich den Kurs.

Ist der Rücktritt von Annette Kurschuss ein Beispiel dafür?

Seiger: In meinen Augen hat sich da die synodale Struktur bewehrt. Ja, es war eine schlimme Entwicklung, die dort in den vergangenen Wochen stattgefunden hat. Aber Frau Kurschus hat als Vorsitzende des Rates der EKD die Verantwortung übernommen für Ihre Fehleinschätzung im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen aus ihrem näheren Umfeld. Und es war die EKD-Synode geleitet von Anna-Nicole Heinrichs, einer Laiin die Frau Kurschuss klar gemacht hat, so wie dieser Fall gelaufen ist, kann man nicht weiter für die Evangelische Kirche in der Öffentlichkeit stehen. Bei aller Tragik, die das für Frau Kurschus mit sich bringt, handelt es sich dabei um eine sehr konsequente Entwicklung. Unser evangelisches System hat funktioniert. Es ist wichtig, dass man sich in seinem Verhalten den eigenen Grundsätzen unterordnet.

Verbundenheit zu Kirche und Glauben

Verbundenheit zu Kirche und Glauben

Damit sind wir unweigerlich bei Kardinal Woelki. Nach einer – vorsichtig ausgedrückt – unglücklichen Kommunikation im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen, hängt sein konsequenzloses Rücktrittsangebot, wie ein Damoklesschwert über dem Erzbistum und der katholischen Kirche in Deutschland. Wie sehr schadet das dem Ansehen der katholischen Kirche?

Kleine: Wenn Menschen einer Institution Vertrauen schenken sollen, dann muss diese glaubwürdig und authentisch sein. Das ist der Punkt, an dem wir als katholische Kirche insgesamt in den vergangenen Jahren gelitten haben. Was unseren Erzbischof betrifft, ist ganz klar, dass er kein Täter ist. Und er hat auch nicht in dem Sinne vertuscht, wie das andere Bischöfe getan haben. Hätte er das erste Gutachten veröffentlicht, wäre er sogar der erste deutsche Bischof gewesen, der nach der sogenannten MHG-Studie solch eine umfassende Untersuchung für sein Bistum vorstellt. Bischof Bode hat in Osnabrück persönliche Fehler eingeräumt und seinen Rücktritt eingereicht – und der ist auch angenommen worden. Kardinal Woelki hat seinen Rücktritt 2022 hingegen auf Bitten des Papstes angeboten. Die Entscheidung steht immer noch aus. Ich glaube, das ist für alle Seiten, auch für den Kardinal, sehr unbefriedigend. Wenn um eine Entscheidung gebeten wird, muss der Zuständige auch einmal klar Ja oder Nein sagen. Das erwarte ich von jeder Führungskraft – auch in der Kirche. Weil in Rom aber bislang keine offizielle Entscheidung getroffen worden ist, ist eine Fixierung auf die Frage des Rücktritts entstanden, die leider den Blick auf die durchaus positive Entwicklung bei der Aufklärung von Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln verstellt hat.

Wie kann die katholische Kirche das so verlorene Vertrauen wieder zurückgewinnen?

Kleine: Indem wir offen mit unserem Versagen umgehen und die Zeichen der Zeit erkennen. 96 Prozent der Befragten in Deutschland fordern, Kirche muss sich verändern. Die katholische Kirche ist allerdings eine Weltkirche. Was die Deutsche Bischofskonferenz als reformbedürftig ansieht, wird schon in Polen ganz anders gesehen. Ich würde deshalb das Augenmerk weniger auf strukturelle Reformen legen, als auf den Umgang mit Menschen in all ihrer Diversität sowie mit dem Thema Macht. Wir müssen wieder mehr die Botschaft Jesu und damit die Menschen in den Mittelpunkt stellen.

Die EKD-Studie wurde erstmals für beide Konfessionen durchgeführt. Welchen Auftrag entnehmen sie den Ergebnissen für die Ökumene?

Seiger: Wir sind beide im Auftrag Jesu Christi unterwegs, das ist unser beider Berufung. Was immer wir unter dieser Überschrift gemeinsam tun können, sollten wir gemeinsam tun. Das kommt bei den Menschen gut an und das schafft Glaubwürdigkeit. Ökumene ist der Weg der Zukunft. Etwas anderes verstehen die Menschen auf Dauer nicht.

Kleine: Ich gehe da vollkommen mit: Das Gemeinsame müssen wir stärken. Ob durch gemeinsame Gottesdienste, durch Zusammenarbeit im Karitativen und gerade auch im Gesellschaftspolitischen. Denn außerhalb kirchlicher Zusammenhänge werden konfessionelle Unterschiede doch kaum wahrgenommen. Hier sind wir einfach als „die Christen“ gefragt.

Das letzte Wort soll nicht die Studie, sondern die Bibel haben. In der Apostelgeschichte wird berichtet: „Der Herr fügte täglich zur Gemeinde hinzu… Ist es ihre Hoffnung, dass einmal wieder so sein wird?

Seiger: Jeder Einzelne, der bei uns Trost, Halt und Geborgenheit findet ist ein Zugewinn. Alle Menschen, mit all ihrer Diversität, sollen bei uns das Gefühl bekommen, ihren Platz gefunden zu haben. Wenn wir so leben, dann haben wir das Unsere getan. Dann bin ich zuversichtlich.

Kleine: In den ersten Gemeinden, von denen die Apostelgeschichte berichtet, gab es so viel Begeisterung, dass der Funke auf die Menschen übergesprungen ist. Wenn wir wieder so für unsere Sache brennen, dann werden sich auch Menschen wieder an uns binden. Erfreulicherweise gibt es schon jetzt Erwachsenentaufen, Wieder- oder Neueintritte und Eltern, die mit Freude ihr Kind taufen lassen.

Interview: Ingo Schmitz