Die Bindekraft der beiden großen Kirchen nimmt dramatisch ab. Was können sie jetzt tun? Der Kölner Theologe Elmar Nass meint: Die Kirchen sitzen in einem Boot - und haben eine gemeinsame Chance.
Kölner Sozialethiker zur Kirchenstudie„Zu wenig ausdrücklich christliche Positionen zu großen Fragen“
Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung liefert für beide großen Konfessionen erschreckende Ergebnisse. Was müsste jetzt passieren?
Aus Sicht der Kirchen muss das wichtigste Ziel sein, Menschen die sinnstiftende Botschaft von Jesus Christus nahezubringen: als Kompass, der gut begründet Antworten auf existenzielle Lebensfragen bietet und auch lebbar ist. Kirchen und alle Christen müssen wieder ausdrücklich Jesus ins Spiel bringen. Die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens misst sich daran, inwieweit Kirche die Botschaft Jesu hör- und sichtbar in den Mittelpunkt ihrer Verkündigung, ihrer Theologie, ihrer öffentlichen Positionierungen und nicht zuletzt des eigenen Redens und Handelns stellt.
Aber es ist ja nicht die erste Studie dieser Art, auch wenn sie jetzt erstmals ökumenisch getragen wurde. Wenn frühere Alarmsignale keine Wende ausgelöst haben, welche Chancen gibt es denn jetzt?
Vielleicht liegt die große Chance in der Erkenntnis, dass beide in einem Boot sitzen. Wir Christen begründen gemeinsam die Würde des Menschen in der Gottesebenbildlichkeit. Mit diesem Fundament haben wir sehr gute Antworten parat für große Herausforderungen unserer Zeit: etwa von Künstlicher Intelligenz, Schöpfung, Krieg und Frieden, von Gesellschaftsmodellen wie in China, den Fragen um Anfang und Ende des Lebens sowie für das Verhältnis von Menschen- und Tierrechten. Hier sollte eine starke ökumenische Initiative jetzt in die Offensive gehen, indem ausdrücklich aus diesem Fundament ethische Leitlinien erarbeitet werden. Dann würde wieder bewusst gemacht, wofür Christen stehen.
Aber müssen die Kirchen nicht zunächst über ihren inneren Zustand reden? Gerade bei den katholischen Befragten ist das Verlangen nach Reformen sehr, sehr groß, zum Teil fühlen sich Menschen zum Beispiel wegen ihrer sexuellen Orientierung zurückgestoßen.
Das darf nicht dazu führen, dass die Kirchen nur noch um sich selbst kreisen und über Macht, Amt und Strukturen debattieren. Solche Diskussionen binden seit Jahren viel zu viele Kräfte. Und dabei gehen viele Menschen verloren, die sich davon nicht angesprochen fühlen. Hier braucht es dringend einen Paradigmenwechsel. Natürlich muss sich die Kirche für die Rechte von Minderheiten einsetzen und gute Wege finden. Die unantastbare Würde hat jeder Mensch. Das ist unaufgebbare christliche DNA. Aus diesem Kern folgen viele Themenbereiche, denen sich christliche Ethik stellen muss.
Aber an Sozialworten der Kirchen und dergleichen ist doch kein Mangel.
Ich habe in den letzten Jahren viel zu wenig ausdrücklich christliche Positionen gehört zu vielen großen Fragen: Etwa zur Stärkung der Würde von Menschen mit Behinderungen angesichts der Sterbehilfediskussionen. Oder eine kritische Auseinandersetzung mit Positionen, die in der Corona-Krise den Lebenswert des Menschen an ökonomischem Nutzen messen. Zur Situation der obdachlosen Menschen. Es fehlt auf christlicher Seite weitgehend eine ehrliche kritische Auseinandersetzung mit dem Menschenbild der Genderperspektive und den daraus folgenden Erziehungsprogrammen. Auch dazu, dass die Grenzen zwischen Technik, Tier und Menschenwürde immer mehr verschwimmen. Und welche Antworten haben wir auf Transhumanismus und KI, die unsere Endlichkeit und Sterbekultur in Frage stellen? Oder zu einer realistisch umsetzbaren Kultur des sozialen Friedens angesichts hoher Migration. Oder auch zur Zukunft von Familie und ihrem Beitrag angesichts von Pflegenotstand und Vereinsamung? In solche Diskussionen können und sollen sich Christen einmischen. Nicht als Politiker, sondern als Bekenner der Botschaft Jesu.
Und wie gewinnen die Kirchen wieder öffentliches Vertrauen? Das ist bei den Katholiken ja im Keller, und bei den Protestanten geht die Missbrauch-Aufarbeitung ja jetzt erst richtig los. Wer einer Institution nicht vertraut, sucht bei ihr auch keine Antworten.
Ziel muss es sein, wieder Vertrauen in Jesus Christus und seine Botschaft zu wecken. Dieses Ziel wurde aus vielen bekannten Gründen in den letzten Jahrzehnten gründlich verfehlt. Wesentlich mitverantwortlich dafür ist auch die nicht-jesuanische Streitkultur unter Theologen und Amtsträgern. Das treibt sehr viele Menschen aus der Kirche. Vertrauen kann nur langsam wachsen. Der Schlüssel dazu ist Glaubwürdigkeit. Der Spiegel dazu ist das Evangelium und das Bewusstsein, dass wir alle einmal vor Gott Rechenschaft für unser Leben ablegen werden. Wenn das in Kirche und Theologie gelingt, werden Doppelmoral, Narzissmus und Profanität im Bild der Kirche verdrängt. Nur so geht es. Und es kann sich dann der Blick wieder richten auf so viele großartige Menschen und Seelsorgerinnen und Seelsorger in unseren Kirchen.
Andererseits sagt die Studie, dass Caritas und Diakonie ein höheres Ansehen als die Kirchen selbst haben und dass der Kontakt zu Seelsorgerinnen und Seelsorgern unter den Kirchenmitgliedern durchaus da ist. Da könnte man doch vermuten, beim Kümmerer-Aspekt seien die Kirchen gar nicht so schlecht aufgestellt?
Die persönliche Begegnung mit glaubwürdigen Seelsorgerinnen und Seelsorgern öffnet den Menschen die Tür zu sich selbst und zur Transzendenz. Sie leben und bekennen, dass unsere irdische Welt auf eine andere Welt verwiesen ist. Solche Seelsorge ist der richtige Weg. Es ist bedauerlich, dass dieser großartige soziale Humanismus öffentlich kaum Erwähnung findet. Diakonie und Caritas sind Kirche. Dieses Profil von beiden Seiten zu schärfen und zu stärken, ist eine Chance für eine christliche Zukunft.
Dagegen bekennt sich nur ein Drittel der Mitglieder beider Kirchen zu einem Gott, der sich durch Jesus Christus zu erkennen gibt. Also zum kleinsten gemeinsamen Nenner des Glaubens. Warum treten die anderen zwei Drittel nicht aus?
Zweifellos ist das Bekenntnis zu Jesus Christus Voraussetzung zum Christ-Sein. Ohne das kann man auch ein guter Mensch sein, aber man ist kein Christ. Ich sehe in dem scheinbaren Widerspruch eine Chance. Vielleicht fühlen sich diese 2/3 als anonyme Christen der Kirche verbunden. Sie teilen dann viele Werte und den christlichen Beitrag zu unserer Kultur, ohne das direkt mit Jesus Christus zu verbinden. Es ist ein missionarischer Auftrag, diesen Menschen guten Willens Jesus Christus als den Ursprung solcher Werte, Moral und Kultur wieder nahe zu bringen.
Sind die Kirchen vielleicht einfach zu verkopft? Seit den Paulusbriefen suchen Christen haarscharfe Definitionen und zerlegen sich darüber. Gemeinsam Messe feiern geht für Katholiken nur, wenn man vorher genauestens über Sakrament und Amt geeinigt hat. Müsste man das umdrehen und mit dem gemeinsamen Vollzug beginnen? Es gibt ja auch zum Beispiel unter jüdischen Theologen leidenschaftliche Debatten über alles Mögliche – aber am Ende hält die gemeinsame Praxis die Religionsgemeinschaft zusammen.
Es gibt schon jetzt viele freie Vollzüge christlicher Gottesdienste, Gebete oder Segensfeiern. Da kann vieles von unten belebend wirken. Es gibt eine verbreitete Sehnsucht vieler Menschen nach Stille und Spiritualität. Teure esoterische Angebote boomen und werden von vielen säkularen Personalabteilungen gefördert. Ich wünschte mir, dass hier auch wieder christliche Angebote einen Fuss in die Tür bekommen. Gerade in den Ordensgemeinschaften gibt es da wunderbaren Oasen, die ich auch selbst immer wieder sehr gerne nutze. Ich lade ausdrücklich dazu ein, Klöster für sich zu entdecken und dort einmal Zeiten der Stille und Besinnung zu verbringen. Da stehen so viele Türen so weit offen.
Kirche braucht immer eine gutes Zueinander von Kopf und Herz. Beide Perspektiven bereichern sich gegenseitig und kommen nicht ohneeinander aus. So etwa haben die Menschen auch ein Recht darauf, mit Vernunft zu verstehen, was wir in der Messe oder anderen Sakramenten feiern. Wer die Argumentationsebene zu sehr schwächt, macht den Glauben schnell beliebig oder blind.