Dramatischer Rückgang der Religiosität, hohe Neigung zum Kirchenaustritt: Eine gemeinsame sozialwissenschaftliche Studie zeigt für beide Konfessionen alarmierende Perspektiven. Fragen an den rheinischen Präses Thorsten Latzel.
Evangelischer Präses im Interview„Wir geben keinen Menschen verloren“
Herr Latzel, es gibt charakteristische Unterschiede zwischen den Konfessionen, aber der große Trend – abnehmende Religiosität, hohe Austrittsneigung – läuft parallel. Sehen Sie Chancen, das zu bremsen oder umzukehren?
Die Studie zeigt ein sehr differenziertes Bild von Kirche und Religion. Ja, die Bindung von Menschen an Kirche nimmt ab – wie auch bei Parteien oder Gewerkschaften. Und noch einmal deutlich geworden ist, wie damit auch die Religiosität abnimmt. Glaube lebt von Gemeinschaft und ist mehr als Privatsache: weil es Wahrheiten gibt, die ich mir selbst nicht sagen kann. Beide großen Kirchen stehen damit vor der Aufgabe, sich grundlegend zu ändern, so die Einschätzung nahezu aller Befragten. Bei den evangelischen Kirchenmitgliedern sind erfreulicherweise rund 80 Prozent der Überzeugung, dass die Reformen der letzten Jahre in die richtige Richtung gehen. Zugleich gibt es hohe Erwartungen an die Kirche, auch bei Konfessionslosen. Kirche solle sich weiter für Bedürftige, Geflüchtete, Menschen in Not einsetzen. Und positiv fällt auf: Religiöse, kirchennahe Menschen engagieren sich tatsächlich viel häufiger in der Gesellschaft und haben ein höheres Vertrauen in ihre Mitmenschen als andere. Kirche ist einer der Ort, wo Menschen vertrauen, hoffen, helfen lernen. Salz der Erde und Licht der Welt sein – das ist unsere Aufgabe, ganz gleich wie groß wir sind. Zugleich setzen wir alles daran, dass Menschen erfahren, wie tröstend und stärkend der Glaube an Gott für das eigene Leben ist.
Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt führt zu Auseinandersetzungen, ich denke an den Rücktritt von EKD-Präses Annette Kurschus. Droht auch Ihnen ein Einbruch bei Vertrauenswerten?
Bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt geht es um das Leid der Betroffenen, nicht um den Schutz der Institution. Die Menschen haben schlicht ein Recht, dass wahr und ernst genommen wird, was sie erfahren mussten. Das ist auch unsere Verantwortung vor Gott. Und wir lernen daraus, damit sich so etwas, wenn irgend möglich, nicht wiederholt. Dafür setzen wir uns mit allen Mitteln ein: mit Schulungen aller Mitarbeitenden, Schutzkonzepten, Melde- und Beratungsstellen, Multiplikator/innen, einer Anzeigepflicht und eben auch unabhängigen Studien unter Mitwirkung der Betroffenen. Die Sorge um das Ansehen von Personen und Institutionen stand früher viel zu oft im Vordergrund. Als Kirche stehen wir hier in einer besonderen Verantwortung, auch wenn sexualisierte Gewalt ein gesamtgesellschaftliches Thema ist. Vertrauen schafft man dabei nur mit Ehrlichkeit, Transparenz und dem Mut zur Selbstkritik.
Nur ein knappes Drittel der Kirchenmitglieder bekennt sich zu einem Gott, der sich in Christus zu erkennen gibt. Reden Kirchen (etwa auf Synoden) zu wenig über Glauben und zu viel über Interna?
Wir erleben mit Krieg, Klima, Migration, Pandemie, Gefährdung der Demokratie so viele Krisen gleichzeitig, da ist die Frage, was uns in dieser Zeit Hoffnung gibt, aktueller denn je. Als Christinnen und Christen glauben wir an den Gott der Liebe. Und das hat Folgen: Wir geben keinen Menschen verloren, setzen uns für den Frieden ein, engagieren uns für die Schöpfung. Und wir tun das alles, weil wir vertrauen, dass letztlich Christus selbst die Welt in seinen Händen hält. Das Gute an Kirche als Gemeinschaft ist, dass sie mich trägt, auch wenn ich selber nicht mehr glauben kann. Zweifel gehören zum Glauben dazu. Wichtig ist, dass wir Gott Raum geben, nicht um uns selber kreisen, sondern miteinander Kirche für andere sind. Unsere Synoden muss ich zugleich in Schutz nehmen. Da wird viel gesungen, gebetet und über Fragen des Glaubens gesprochen. Zugleich ist es die Aufgabe unserer Kirchenparlamente, verantwortlich mit jedem anvertrauten Euro umzugehen, Kirchen zu erhalten, Gemein-den zu unterstützen. Und ich bin dankbar für alle, die das tun oder es mit ihrer Kirchensteuer unterstützen.