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Serie „Babylon Köln“Als die Brüder Heitger die Republik in Atem hielten

Lesezeit 7 Minuten
Männer auf der Hohenzollernbrücke 1928

Heißes Pflaster Köln: Die Brüder Heitger fanden 1928 in der rheinischen Metropole erst Unterschlupf nach ihren Überfällen und schließlich ihr Ende.

Die Brüder Heitger waren vor 95 Jahren die meistgesuchten Gangster Deutschlands. Im Interview spricht Autor Anselm Weyer über sein neues Buch, das ihre spektakuläre Geschichte erzählt.

Mit brutalen Überfällen und Schießereien hielten Johann und Heinrich Heitger 1927/28 die Republik in Atem. Autor Anselm Weyer hat den blutjungen Gangstern, deren Verbrecherkarriere in Köln endete, ein Buch gewidmet. Michael Fuchs sprach mit ihm – eine Extrafolge unserer Serie „Babylon Köln“.

Herr Weyer, wie sind Sie dazu gekommen, ein Buch über „die ruchlosen Brüder Heitger und ihre Spießgesellen“ zu schreiben?

Bei meinen Recherchen für die Rundschau zur Serie „Babylon Köln“ mit Kriminalfällen aus der Weimarer Republik bin ich über die Brüder Johann und Heinrich Heitger gestolpert und habe schnell gemerkt, dass ihre Geschichte weitaus mehr hergibt als nur einen Artikel. Sie hat sehr viele Facetten. Tatsächlich habe ich mich gewundert, dass vorher noch niemand ein Buch darüber geschrieben hat und dass der Fall Heitger nicht eine größere Rolle in unserer Erinnerungskultur einnimmt.

Wie würden Sie diesen Kriminalfall charakterisieren?

Er ist spektakulär, geradezu unglaublich. Es ist wie im Film, wie ein Western. Da gibt es wilde Schießereien, eine Bank wird überfallen, die Verbrecher flüchten mit einer führerlosen Straßenbahn durch Köln. Immer wieder entkommen sie aus scheinbar ausweglosen Situationen – bis zum großen Showdown. Die Geschichte erinnert an Bonnie und Clyde, nur ohne Frau. All das ereignet sich in den Zwanzigerjahren mitten in Deutschland, und das Finale spielt im Villenviertel Köln-Riehl.

Wie sind Sie an die Informationen gekommen?

Ich habe in Zeitungsberichten der damaligen Zeit recherchiert, vor allem in Blättern von Rhein und Ruhr, aber auch aus Bayern, wo die Brüder Heitger sich von ihren Überfällen „erholt“ haben. Akten aus dem Preußischen Geheimen Staatsarchiv lieferten weitere Erkenntnisse. Nach dem Krieg gab es auch einige Zeitzeugenberichte, in denen Beteiligte ihre Sicht auf die damaligen Ereignisse schildern. In der „Kölnischen Rundschau“ sind in den 60er- und 70er-Jahren Serien über die Brüder Heitger erschienen, die ich auch gelesen habe.

Wie haben Sie daraus Ihr Buch gemacht?

Alles, was ich geschrieben habe, basiert auf den Quellenberichten. Ich habe stets nur das geschildert, was überliefert ist. Wobei natürlich schon damals die eine oder andere unbelegte Behauptung oder Übertreibung dabei gewesen sein mag. Aber selbst wenn man nur die nackten Fakten betrachtet, die sicher belegt sind, hat der Fall viele absurde Wendungen. Wenn es eine erfundene Geschichte wäre, würde sie keiner glauben.

Dabei klingt es vielfach wie ein Filmstoff. Aber wir reden ja über eine sehr gefährliche Bande.

Das sind   Schwerverbrecher, bewaffnete Raubmörder, die bei jeder Gelegenheit um sich schießen. Doch als die Kölner Polizei einen Tipp bekommt, dass sie sich in der Wohnung Riehler Straße 86 aufhalten, schickt man kein großes Aufgebot dort hin, sondern nur vier Kriminalbeamte und zwei Oberlandjäger, die zur Ausbildung in Köln sind. Sie müssen mit der Straßenbahn zum Einsatz fahren.

Weil man ein Dienstauto 24 Stunden vorher per Formular anfordern muss...

Genau. Zwar gelingt es ihnen sogar, die beiden Heitgers festzunehmen. Dann halten sie einen Privatwagen an, um die Gefangenen ins Präsidium zu fahren. Aber sie haben sie nur provisorisch gefesselt und schlampig durchsucht. Hans Heitger zückt plötzlich eine kleine Pistole, die er im Schuhschaft versteckt hatte, und erschießt den Polizeibeamten Philipp Vollmer. Daraufhin gelingt Hans und Heinz Heitger die Flucht.

Und dann?

Einer der Oberlandjäger, Barthel Schmitz aus Oberaußem, nimmt trotz Schussverletzung die Verfolgung auf. Er schafft es noch, Hans Heitger niederzuschlagen. Doch weil er in Zivil ist, wird er von herbeigeeilten Passanten für den Aggressor gehalten. Sie greifen ihn an, verprügeln ihn und lassen so die wahren Verbrecher entkommen.

Kaum zu glauben ist ja auch, dass die Heitgers ins Münchner Polizeipräsidium einbrechen, um Blankoformulare und Stempel für neue Pässe zu stehlen.

Ich hätte mich nicht getraut, mir das auszudenken. Kurios ist auch der Umstand, dass der Bankraub der Heitgers und ihrer beiden Komplizen Karl Lindemann und Willi Hübsche am 5. Mai 1928 ausgerechnet in Gladbeck stattfindet, wo 60 Jahre später das Geiseldrama um die Gangster Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski seinen Anfang nimmt.


Zur Person: Anselm Weyer

Anselm Weyer, Jahrgang 1976, ist Journalist und Autor. Für die Rundschau schreibt er historische Artikelserien, darunter „Babylon Köln“ über Verbrechen der Jahre 1918 bis 1926. Daraus entstand sein erstes „True Crime“- Buch mit 23 wahren Kriminalfällen „Die Insel der Seligen“. Sein neues Werk widmet sich den Heitgers und ihren Komplizen.

Anselm Weyer: Wie die ruchlosen Brüder Heitger und ihre Spießgesellen eine Blutspur durch halb Deutschland zogen. Greven Verlag Köln, 20 Euro.


In Köln beteiligen sich auch Schaulustige an der Jagd auf die Heitgers. Der Gärtner Willi Peters verfolgt sie auf dem Fahrrad, wird niedergeschossen und stirbt später. Wie kam es dazu, dass „Hobbydetektive“ ihr Leben riskierten?

Schwer zu sagen. Kriminalgeschichten waren damals in aller Munde, viele lasen Groschenromane. Die Brüder Heitger wurden schnell berühmt, auf der Straße spielten Kinder statt „Räuber und Gendarm“ bald „Heitgers gegen Schupos“. Nach der Schießerei in Köln im Oktober 1928 titelten die Zeitungen „Chikago am Rhein“ und „Wildwest am Rhein“. Der amerikanische Gangsterfilm „Unterwelt“ von Josef von Sternberg, der 1928 gerade in die deutschen Kinos gekommen war, bekam eine neue Werbekampagne und wurde als   Geschichte à la Heitger beworben.

Hans Heitger war 24 Jahre alt, als er starb, Heinz Heitger 21. Beide haben viele Menschenleben auf dem Gewissen, trotzdem hieß es aus ihrem Umfeld, sie seien gute Jungs gewesen. Wie passt das zusammen?

Es bleibt ein Rätsel, wie sie zu dem geworden sind, was sie waren. Sie stammen aus einem katholischen Elternhaus, über ihre Jugend weiß man kaum etwas. Als Hans Heitger sich am Ende in Riehl in der Villa von Christian Oertel, Generaldirektor der Colonia-Versicherung, verschanzt, schreibt er Abschiedsbriefe an seine Eltern, seine Geschwister, seine Geliebte, bittet um Vergebung für seine Sünden. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, sich der Polizei zu ergeben. Aber das tut er nicht, er wollte wohl einen spektakulären Abgang. Zuvor erschießt er einen weiteren Polizisten, nachdem er eben noch geschrieben hat: „Denn wenn ich auch ein Mörder bin, schlecht war ich nie.“

Nach ihrem Tod in Köln wurden die Heitgers in einigen Kreisen geradezu verehrt und zu Helden der Arbeiterklasse stilisiert.

Manche deuteten ihren Kampf gegen die Polizei als Klassenkampf um. In den 20er-Jahren war der Staat mit viel Gewalt gegen die Arbeiterschaft vorgegangen, etwa beim Ruhraufstand 1920. Der anarchistische Autor Erich Mühsam würdigte sie sogar mit einem Gedicht. Ein politisches Engagement der Heitgers ist aber nirgendwo belegt. Und ihre Opfer gehörten nicht zu den oberen Zehntausend. Die Menschen, die sie bei ihren Raubzügen erschossen haben, waren alles kleine Leute.

Haben Sie eigentlich schon einen Anruf aus Hollywood erhalten?

Nein, bisher nicht. (lacht) Aber die Geschichte der Heitgers würde sich durchaus für eine Verfilmung eignen, denke ich.


Schon der erste Überfall forderte ein Menschenleben

1904 wird Johann Heitger am 13. September geboren, sein Bruder Heinrich (siehe Foto) kommt am 28. Juli 1907 zur Welt, beide in Gelsenkirchen. Ihr Vater ist Bergmann, er stirbt 1914 mit 41 Jahren. Die Brüder wachsen in Altenessen bei ihrer Mutter Klara Anna Heitger und Stiefvater Johann Steinmann auf.

Als junger Mann freundet sich Hans Heitger mit seinem Vetter Willi Hübsche an, einem Gewohnheitsverbrecher, der mehrfach wegen Diebstahls ins Gefängnis muss. Vierter im Bunde ist ein Junge aus der Nachbarschaft: Karl Lindemann wird während seiner Klempner-Lehre beim Klauen erwischt, schlägt sich seitdem als Hilfsarbeiter durch. Gemeinsam träumen sie von einem schönen Leben ohne viel Arbeit. Eines Tages schlägt Heinz vor, den Geldboten der Knappschaft zu überfallen, der in Essen-Byfang die Renten auszahlt, berichtet Lindemann später.

1928 Schwerverbrecher Heinz Heitger auf einem Fahndungsfoto der Polizei.

1928 Schwerverbrecher Heinz Heitger auf einem Fahndungsfoto der Polizei.

Gesagt, getan. Sie stehlen ein Auto und lauern dem Boten Heinrich Küpper auf, der in seiner Ledertasche fast 19 000 Reichsmark in bar dabei hat. Ein Schuss fällt, der Küpper tödlich verletzt. In der Aufregung sei ihm die Pistole versehentlich losgegangen, sagt Hans später.

Den Vieren gelingt die Flucht, sie bleiben unerkannt. Mit dem Geld gründen die Heitgers ein Fuhrunternehmen, doch das geht nicht lange gut. Bald stehen sie wieder mit leeren Taschen da, planen deshalb ihren nächsten Coup: einen Überfall am 5. Mai 1928 auf die Filiale der Reichsbank in Gladbeck. Sie erbeuten rund 34 000 Mark. Doch die Polizei kommt ihnen auf die Spur. Als Kriminalsekretär Klemens Oßkopp sie in der Wohnung der Hübsches aufstöbert, erschießt ihn Hans. Eine wilde Flucht quer durch Deutschland beginnt, die im Oktober mit dem Tod der Heitgers in Köln endet . fu)