Da könnte ja jeder kommen, einfach per Befehl zum Verlassen des Rheinlands aufzufordern. Der grundsolide Finanzbeamte Rainer Heahling von Lanzauer weigerte sich strikt den Besatzern nach dem ersten Weltkrieg die geforderten Reparationszahlungen zu gewähren und akzeptierte auch nicht die Verbannung. Die Solidarität mit ihm war groß im Jahre 1923.
Babylon Köln1923: Vom Beamten zum Nationalhelden
Wer hätte gedacht, dass Reiner Haehling von Lanzenauer, der quasi sein gesamtes in grundsoliden Bahnen verlaufenes Leben als Beamter im Dienst der Regierung gearbeitet hatte, einmal verhaftet und als Präsident des Landesfinanzamts zur allseits bejubelten nationalen Symbolfigur werden würde? Und das im fortgeschrittenen Alter von 60 Jahren? Als aber am Samstagvormittag, dem 20. Januar 1923, gegen 10 Uhr der Unterdirektor der französischen Zollverwaltung in Paris mit einem Dolmetscher auf dem Landesfinanzamt in der Wörthstraße 1 bei Reiner Haehling von Lanzenauer vorstellig wurde, war klar, was die Stunde schlug.
Kohle als "Produktives Pfand"
Deutschland war im Versailler Vertrag dazu verpflichtet worden, alle Kriegsverluste und Kriegsschäden der Alliierten zu entschädigen. Damit war der wirtschaftlich immer noch strauchelnde deutsche Staat Ende 1922 in Verzug. Also fühlten sich Frankreich und Belgien zur Selbsthilfe berechtigt. Sie marschierten am 11. Januar ins Ruhrgebiet ein, um „produktives Pfand“ in Gestalt der deutschen Koks- und Kohleproduktion in Beschlag zu nehmen.
Wie sich aber wehren? Die Reichsregierung rief die Bevölkerung am 13. Januar zu passivem Widerstand auf. Der sogenannte Ruhrkampf begann. Die Zechen lieferten keine Kohle mehr, die Eisenbahner weigerten sich, Kohle zu transportieren. Alle deutschen Beamten wurden verpflichtet, Anweisungen der Besatzungsmacht nicht Folge zu leisten. Das gefiel Frankreich natürlich gar nicht. Entsprechend war nun auch der Unterdirektor der französischen Zollverwaltung ins besetzte Köln gekommen, um den Präsidenten des dort angesiedelten Landesfinanzamtes persönlich anzuweisen, alles zu veranlassen, um die Durchführung der neuen Sanktionen, wie Beschlagnahme der Zölle, der Kohlensteuer und der Ausfuhrabgabe, sicherzustellen. Jene Beamten, versicherte er Präsident Lanzenauer, die nach den französischen Vorgaben arbeiteten, würden sich eine angenehme Erinnerung sichern. Andernfalls hätten sie mit strengen Strafen zu rechnen. All dies gipfelte in der Frage, ob Haehling von Lanzenauer selbst denn den neuen Anordnungen der Rheinlandkommission gehorchen würde.
„Es ist mir nicht möglich, den Forderungen des Herrn Delegierten nachzukommen, die an mich gestellt sind“, erklärte jedoch Präsident Lanzenauer. „Ich würde meiner Pflicht als deutscher Beamter zuwider handeln, wenn ich Weisungen befolgen würde, die ich als unrechtmäßig und als ungültig ansehen muss. Als deutscher Beamter bin ich verpflichtet, den deutschen vorgesetzten Behörden zu folgen. Diese Behörden haben angeordnet, dass die Beamten der Finanzverwaltung sich nicht dazu hergeben dürfen, die gestern übermittelten unrechtmäßigen Anordnungen auszuführen. Die übergebenen Befehle halten sich nicht im Rahmen des Rheinlandabkommens und deshalb sind sie unrechtmäßig. Dieses ist mein Standpunkt und derjenige der deutschen Regierung.“
Nachdem sich der französische Delegierte ausdrücklich hatte bestätigen lassen, dass die Ablehnung eine formelle Weigerung sei, teilte er mit, dass er sich nun an die Rheinlandkommission wenden werde. Diese werde weitere Anordnungen treffen. Anschließend verließ die französische Delegation das Gebäude.
Noch am selben Nachmittag um 16 Uhr wurde neuerlicher Besuch bei Lanzenauer vorstellig, diesmal ein französischer Polizist nebst Dolmetscher. Sie überbrachten Lanzenauer offiziell einen schriftlichen Ausweisungsbefehl des Delegierten der Rheinlandkommission in Bonn. Der Präsident des Landesfinanzamtes selbst habe das besetzte Gebiet sofort zu verlassen. Seiner Familie werde noch eine Frist von vier Tagen zum Verlassen des besetzten Gebietes gegeben.
Der Aufruhr war groß, die Bevölkerung empört. Von überall hagelte es Solidaritätsbekundungen mit Lanzenauer. Auch Reichsfinanzminister Dr. Andreas Hermes schickte ihm ein Telegramm, in dem er seinem Beamten für sein Verhalten dankt und dieses vollständig billigt. Lanzenauer seinerseits dachte nicht daran, als gebürtiger Rheinländer und deutscher Beamter auf französische Weisung Köln zu verlassen. Montagmorgens, am 22. Januar 1923 um 10 Uhr, war die Frist verstrichen und Lanzenauer hatte seinen üblichen Dienst angetreten. Begleitet wurde dies von einer sich mit ihrem Vorgesetzten solidarisierenden Einspruchskundgebung der Beamten- und Angestelltenschaft der Kölner Finanzämter. Tausende hatten sich auf Reichenspergerplatz und Wörthstraße versammelt und erst nach einiger Zeit das Deutschlandlied singend wieder verstreut.
Am Abend folgten die Konsequenzen. „Kurz nach 10 Uhr erschienen vor dem Eingang der Privatwohnung des Präsidenten drei Automobile, von denen eins mit französischen Offizieren, die anderen mit englischem Militär besetzt waren“, berichtet die Kölnische Volkszeitung. „Die Autoinsassen verlangten sofort Einlass in die Wohnung, um vor den Präsidenten Haehling von Lanzenauer geführt zu werden. Die französischen Offiziere eröffneten dann dem Präsidenten, dass sie einen Haftbefehl des französischen Befehlshabers in Bonn hätten und dass sie ihn sofort nach Bonn abführen müssten.“ Präsident Lanzenauer fügte sich schließlich der Gewalt und ließ sich abführen, während Passanten, die Zeuge der Abfahrt wurden, ein begeistertes dreifaches Hoch auf ihren obersten Finanzbeamten ausgebrachten.
Über Bonn ging es für Lanzenauer umgehend ins französische Militärgefängnis in Mainz. All die Aufregung war für den Spross einer Adelsfamilie offenkundig zu viel. Landesfinanzamtspräsident Haehling von Lanzenauer erkrankte und musste am 29. Januar ins französische Militärhospital in Mainz überführt werden. Die Franzosen wollten aber keinesfalls, dass ihnen der Präsident des Landesfinanzamts in Haft stürbe und so zum Märtyrer würde. Also verzichtete die französische Obrigkeit auf einen Prozess, setzte Haehling von Lanzenauer am Dienstag, dem 6. Februar, in ein Auto, mit dem man ihn über die Grenze des besetzten Gebiets fuhr und kurz vor Frankfurt am Main freiließ. Damit war Lanzenauer abgeschoben. Den Ausweisungsbefehl gegen Haehling von Lanzenauer nahm die Rheinlandkommission erst im Juli 1924 wieder zurück. Seinen Dienst trat er am Dienstag, dem 14. Oktober 1924 wieder an. Er sollte sein Amt nicht mehr lange ausüben können. Er starb am 12. Oktober 1925 an einem Schlaganfall und wurde auf Melaten beerdigt.