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Abschied mit WürdeSo arbeiten die mobilen Palliativ-Teams in Köln

Lesezeit 7 Minuten

Zeit, Zuwendung, Zuhause: Patienten wie Doris König (l.) schätzen die Besuche von Dr. Annette Wille-Friederichs (r.) und ihren Kollegen.

Köln – Dora und Uli L. haben ihre eigene Art zu leben. Mit zwei großen Hunden wohnt das Ehepaar in einem Wohnwagen in Rheinnähe. Es ist warm und gemütlich im vollausgestatteten Wagen. Im Garten blühen die letzten Sommerblumen. Wild romantisch. Wären da nicht die Aufstehhilfen, die von der Decke baumeln, die Aufhängung für Sondennahrung über dem Bett, die große Plastikkiste voller Medikamente. Dora, 57, Fotografin und Journalistin, hat Zungenkrebs.

Acht Operationen hat sie seit der Diagnose vor weniger als einem Jahr hinter sich. Brutal hat der Krebs gewütet: Die Zunge ist herausoperiert, die Mundhöhle mit Muskelgewebe aus dem Brustbereich rekonstruiert. Eine Platte ist da eingesetzt, wo die Knochen durch das Wundgewebe getreten sind. Narben überziehen den Hals. Jegliche Mimik bereitet Dora Schmerzen. „Allmählich habe ich einen Froschmund“, sagt sie. Sie spricht mühsam, aber ohne Selbstmitleid, während sie am Tisch ihrem Mann gegenüber sitzt.

Noch lebt Dora, sie lebt gerne

Dora weiß, dass sie sterben wird. Bald vielleicht. Aber noch lebt sie. Und sie lebt gerne. „Das habe ich dem SAPV zu verdanken. Ohne den würde ich überhaupt nicht mehr hier sitzen“, sagt die Frau mit dem leuchtend roten Haar. SAPV steht für „Spezialisierte ambulante Palliativversorgung“. Seit 2007 haben Menschen, die an einer unheilbaren Erkrankung leiden und behandlungswürdige Symptome haben, einen gesetzlichen Anspruch auf eine Versorgung durch ein Palliativteam zuhause oder im Heim. „Die Krankenkassen übernehmen sämtliche Kosten für unsere Leistungen“, sagt Dr. Annette Wille-Friederichs, leitende Ärztin bei der Palliativteam SAPV Köln GmbH.

Immer ist jemand in der Nähe

Bei Dora hat Ärztin Carla Thau zusammen mit einem Team von Pflegenden dafür gesorgt, dass sie jetzt ihre Schmerzen im Griff hat. Mit Morphiumpflaster und -tropfen kann sie sie in Schach halten. Früher waren sie unerträglich. „Zu Anfang war ich auf der Schmerztabelle bei Acht, jetzt bin ich bei Zwei“, sagt Dora.

Ihre Palliativ-Ärztin hat sich viel Zeit für sie genommen, anfangs ist sie täglich gekommen, inzwischen kommt sie vier mal die Woche. Verschiedene Palliativpflegekräfte schauen täglich vorbei. „Beruhigend ist auch, dass wir in einer Notsituation jederzeit einen Arzt beim SAPV erreichen. Dort ist rund um die Uhr jemand“, sagt Ehemann Uli. Auch nachts fahren die Mitarbeitenden bei Bedarf zu ihren Patienten. Mit dieser Stütze im Rücken schafft es der Fotograf, sich um seine Frau und sich selbst zu kümmern. „Außerdem bekommen wir unglaublich viel psychologische Unterstützung“, sagt er. Bei Krisen steht ein Seelsorgemitarbeiter des SAPV zur Verfügung. „Grundsätzlich haben wir immer die gesamte Situation im Blick“, erklärt Wille-Friederichs.

Den letzten Abschnitt in Würde verbringen

Die 54-jährige Ärztin gehört seit 2015 zu dem rund 120-köpfigen Kölner SAPV-Team. Lange hat sie zuvor als Oberärztin für Gastroenterologie im Krankenhaus gearbeitet. Da ging es um Heilung. Jetzt geht es um etwas anders: „Wir wollen die letzte Lebenszeit würdig gestalten.“ Eine Aufgabe, die verlangt, dass den Patientinnen und Patienten größtmögliche Autonomie gewährt wird.

„Jeder darf so sterben, wie er gelebt hat“, ist Wille-Friederichs feste Überzeugung. Wer beispielsweise ein Messi sei, dürfe auch auf seinem Müllberg sterben. Auch wenn die Lebenskraft schwindet, die Selbstbestimmung bleibt. Schmerzen, Angst und Leid dagegen versuchen die SAPV-Teams zu nehmen. Meist kommen Mitarbeitende täglich. Sie wechseln Katheder oder Drainagen, versorgen Wunden, kontrollieren Schmerzen und Symptome und passen die Medikamente an. Bei Bedarf helfen Psychoonkologen weiter.

Neben den medizinischen Fachkräften sind auch Seelsorger und unterschiedliche Therapeuten mit an Bord. Von Maltherapie über Klangschalen bis hin zu therapeutischem Reiten reicht das Angebot. „Ich bin im Sommer eine Stunde durchs Bergische Land geritten. Im Leben hätte ich als Pferdefrau nicht gedacht, dass das noch mal möglich wäre“, erzählt Dora und ihre blauen Augen strahlen.

Durch die Palliativversorgung haben sich neue Perspektiven für sie und ihren Partner geöffnet. Das Paar plant in wenigen Wochen eine Reise nach Südafrika. Es wird wohl die letzte sein, denkt Uli.

Viele möchten dort sterben, wo sie geboren wurden

Für einen Monat können die SAPV-Ärzte Medikamente für eine Reise verordnen. „Wir machen auch die Papiere fertig, die bescheinigen, dass sie Opiate mitführen dürfen“, sagt Wille-Friederichs. Ein Prozedere, das nicht selten vorkommt. Gerade Menschen, deren Wurzeln in einem anderen Land liegen, wollen oft dort sterben.

„In den allermeisten Fällen ermöglichen wir den Wunschsterbeort“, sagt Doras Ärztin Thau. Für einen Sterbewunsch hingegen ist das SAPV-Team die falsche Adresse. „Wir sind für das Leben da“, unterstreicht Wille-Friederichs. Für das Leben und den Tod, der dazugehört. „Hebammen am Lebensende“ könne man sie nennen. Das sagt die leitende Ärztin während sie unterwegs nach Lindenthal ist. Sechs bis acht Besuche stehen an einem Tag auf dem Programm.

Doris König (Name geändert), 78, wohnt in einem gepflegten Altbau. Zeichnungen, Bilder und Collagen schmücken die geräumige, liebevoll eingerichtete Wohnung. „Mein Zuhause seit 31 Jahren“, sagt die ehemalige Krankenschwester.

Der Wunsch, zuhause zu sterben

2012 gründeten die Ärzte Dr. Stefanie Wagner und Dr. Thomas Joist mit vier weiteren Kollegen die Palliativteam SAPV Köln GmbH. Inzwischen versorgen sie mit einem Team von rund 120 Mitarbeitenden jährlich rund 1000 unheilbar kranke Patienten. Dazu gibt es jetzt vier Standorte – in Höhenberg, Porz, Bickendorf und Bergisch Gladbach. Auch die Uniklinik Köln hat ein Team für die Spezialisierte ambulante Versorgung.

Kosten entstehen für die Betreuung durch ein SAPV-Team nicht. Sie werden von den Krankenkassen übernommen. Pflegesachleistungen oder Pflegegeld bleiben unberührt. Es muss eine ärztliche Verordnung erstellt werden, die die Notwendigkeit einer palliativen Betreuung bescheinigt. Dies kann auch im Krankenhaus geschehen.

Die Verweildauer der Patienten in der ambulanten Palliativversorgung ist sehr unterschiedlich. Sie kann zwischen wenigen Tagen und mehreren Monaten liegen. Der Durchschnitt sind 28 Tage.

20 Prozent der Patienten der SAVP-Teams werden im Schnitt wieder aus der Versorgung entlassen. Nicht immer verschlechtert sich also der Zustand eines Palliativ-Patienten. Eine englische Studie belegt, dass unheilbar Kranke, die frühzeitig von einem SAPV-Team versorgt werden, länger leben als vergleichbare Patienten ohne eine solche Versorgung.

Zusätzliche Begleitung können die ambulanten Hospizvereine leisten. Sie arbeiten ehrenamtlich und ihre Unterstützung ist oft sehr hilfreich. In der Sterbephase kann zudem über das Schwerstkrankennetz eine Nachtwache organisiert werden. Es ist auch möglich, in ein Hospiz zu wechseln.

24 Stunden beträgt die Frist, innerhalb derer das Kölner SAPV-Team versucht, auf Anfragen für Betreuungen zu reagieren und neue Patienten aufzunehmen. Die Versorgungslage in der Stadt Köln ist – anders als im ländlichen Raum – gut. Eine Warteliste gibt es nicht.

Den Wunsch, zuhause zu sterben, haben laut der „Last-Year-of Life“-Studie von Professor Raymond Voltz von der Uniklinik Köln die meisten kranken Menschen. Tatsächlich aber findet die Hälfte der Sterbebegleitung im Krankenhaus statt. (dha)

Zu Jahresbeginn hatte sie Unterleibsbeschwerden. Ein paar Untersuchungen. „Dann ging es zack, zack. Innerhalb von vier Wochen stand die Diagnose.“ CUP, Krebs mit unbekanntem Primärtumor, viele Metastasen. „Als ich die Diagnose bekommen habe, war das, als hätte man mir den Teppich unter den Füßen weggezogen. Da war nur noch der Gedanke ,Wie komme ich nach Belgien?’“, erinnert sich König. Als Krankenschwester kann sie den Befund realistisch einschätzen, Chemo lehnt sie für sich ab. Spontan will sie kein Leiden, lieber sich „in Belgien einschläfern“ lassen.

Gut sechs Monate nach der Diagnose ist das für König keine Option mehr. So lange ist auch das SAPV-Team nun schon an ihrer Seite. „Meine Ärztin hat große Empathie. Wir haben viel über Ängste gesprochen“, sagt König. Sie liegt in ihrem Entspannungssessel im Wohnzimmer. Über ihr zwei expressive Engel-Bilder, die sie vor Jahren gemalt hat. Aus der Küche weht der Duft von geschmorten Pilzen und Weißwein. Martina, eine langjährige Freundin, kocht Risotto.

Tägliche Verrichtungen strengen inzwischen an. Die Luft ist knapp. Häufig kommen Freunde und Nachbarn vorbei. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein liebevoll gefertigter Gutschein für „Kartoffelbrei zu einem Zeitpunkt deiner Wahl“. Doris König, die seit Jahrzehnten alleine lebt, sagt: „Ich habe viele gute Freunde.“

Sie wirkt friedvoll. Sie habe sich entschlossen, die Zeit, die ihr bleibt, zu genießen, erzählt sie. Im Sommer hat sie sich noch ein E-Bike gekauft. Einen Tag waren Martina und sie in Daisy’s Tea-Room in Zündorf. „Herrlich“, schwärmt König. Auch in Belgien war sie übrigens. Mit ihren drei Brüdern für drei wunderschöne Tage am Meer. Demnächst will sie in ein Hospiz wechseln.