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SternenkinderVom Umgang mit einer Fehlgeburt

Lesezeit 7 Minuten

Hennes wurde nach der Fehlgeburt auf dem Kölner Nordfriedhof bestattet .

Nur einmal musste Franzi pressen, dann war Hennes auf der Welt. Was fehlte: Schreien, Strampeln, warme Babyhaut. Bis zur 19. Woche war die Schwangerschaft ganz normal verlaufen, dann aber konnte Franzis Gynäkologe keine Herztöne mehr feststellen. Es war ein sonniger Wintertag, mittags war sie noch mit offener Jacke und leicht gerundetem Babybauch durch die Stadt gelaufen, zum ersten Mal stolz, bald Mutter zu werden. Der Arzt überwies Franzi (der vollständige Name ist der Redaktion bekannt) in die Uniklinik Köln, wo nur noch der Tod ihres Babys bestätigt werden konnte. Davon, dass sie seit Tagen ein totes Baby in sich trug, hatte Franzi nichts bemerkt.

Kein Eintrag ins Geburtenbuch

In der Klinik musste die damals 25-Jährige alle drei Stunden Tabletten einnehmen, die die Geburt auslösen sollten. "Ich wollte ihn einfach nicht loslassen." Vier Tage dauerte es, bis sie Hennes auf natürlichem Wege gebären konnte. "Die ganze Zeit über habe ich mich gefühlt wie in einem schlechten Film. Ich habe vorher nie darüber nachgedacht, dass mir das passieren könnte", sagt Franzi heute, ein gutes Jahr später. Ihr Freund durfte bei ihr im Krankenhaus bleiben. Grund für den frühen Tod war wahrscheinlich die um den Hals geschlungene Nabelschnur. Franzis Junge wog knapp 300 Gramm und war 23 Zentimeter groß. Damit war Hennes noch eine Fehlgeburt. Erst ab einem Geburtsgewicht von 500 Gramm spricht man von einer Totgeburt, die auch ins Geburtenbuch der Stadt eingetragen werden muss. Derzeit wird ein Gesetz umgesetzt, nach dem auch Fehlgeburten dort aufgenommen werden können. Für Hennes gab es diese Möglichkeit im Dezember 2011 noch nicht. "Das ist schade, denn so hat Hennes nie offiziell existiert", sagt Franzi.

40 Totgeburten gab es im Jahr 2011 in Köln, die Fehlgeburten können bislang statistisch nicht erfasst werden. Immerhin weiß Franzi, wo der Körper ihres toten Kindes beerdigt ist. Er liegt auf dem Sternenfeld des Kölner Nordfriedhofs. In einer kleinen Senke schlängelt sich ein Fluss aus Kieselsteinen - Blumen, Windlichter und Spielzeug sind darin arrangiert. Zwei bis drei Mal jährlich organisieren Kölner Kliniken unabhängig voneinander die Verbrennung und Sammelbestattung für fehl- und totgeborene Babys. Sternenkinder heißen die Kinder, die gar nicht oder nur ganz kurz leben durften. Die Urnen werden unter den Kieselsteinen vergraben, ein großer Stein mit der Aufschrift des Krankenhauses und dem Datum der Sammelbestattung schmückt die Stelle.

Dass Abtreibungen, Fehl- und Totgeburten bestattet werden können, ist seit 2003 im Bestattungsgesetz NRW und im Personenstandsgesetz des Bundes vorgeschrieben. "Sternenkinder dürfen von den Eltern individuell, etwa in einem Familiengrab, beigesetzt werden. Wenn Eltern das nicht möchten, muss die Klinik für eine würdevolle Bestattung sorgen", erklärt Brian Müschenborn, Bestatter aus Köln. Kontrolliert werden Kliniken und private Praxen nicht. Deswegen, glaubt Hannelore Bartscherer vom Kölner Katholikenausschuss, dass es immer noch eine Dunkelziffer von nicht bestatteten Kindern gibt. Sie fordert eindringlich eine Kontrolle durch den Gesetzgeber. Problematisch ist laut Müschenborn außerdem, dass das Gesetz weder vorschreibt, wie eine würdevolle Bestattung auszusehen hat, noch wie häufig sie stattfinden muss. Franzis Hennes wurde erst vier Monate nach seinem Tod bestattet. "Bis dahin brauchte ich natürlich einen Ort, an dem ich trauern konnte", erzählt Franzi. In ihrem Wohnzimmer in Erftstadt flackert auf der Fensterbank hinter der großen grauen Couch eine Kerze in einem Windlicht. "Am Anfang brannte die Kerze Tag und Nacht, ich habe sie mit ans Bett genommen, weil ich sonst nicht schlafen konnte. Heute mache ich sie immer noch oft an." Daneben steht das letzte Ultraschallbild von Hennes in einem herzförmigen Rahmen.

Es gibt auch Fotos von Hennes nach der Geburt, aber die kann Franzi sich nicht anschauen. "Ich habe meinen Freund gebeten, sie zu verstecken." Kurz nach der Entbindung hat sie sich von ihrem Sohn verabschiedet, er lag in eine blaue Decke gebettet in einem Körbchen. "Erst wollte ich ihn nicht sehen, ich hatte Angst, dass er komisch aussehen würde", erzählt sie. "Aber er sah aus wie ein ganz kleiner Mensch, war wunderschön und genauso, wie ich ihn mir gewünscht hatte." Sie erinnert sich noch an die dünne Haut, die winzigen Hände und dass seine Pupillen dunkel hinter den Augenlidern schimmerten.

"Die Eltern bekommen bei uns die Möglichkeit, ihr Kind zu begrüßen und wieder zu verabschieden. Es ist wichtig, dass die Eltern wissen, worum sie trauern", sagt Anne Kruse, katholische Seelsorgerin an der Uniklinik Köln, die auch Franzi damals betreut hat. Die 26-Jährige erinnert sich noch gut an die Betreuerinnen, wartete jeden Tag auf deren Besuch und die Gespräche. "Wir versuchen einen Raum für die Trauer zu öffnen", erklärt Kruse. "Die Trauer kann nicht verdrängt werden, denn irgendwann holt sie die Eltern sowieso ein."

An eine Beratungsstelle wandte Franzi sich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht. "Ich wollte einfach nicht mehr." Was Franzi in diesen Tagen neben dem Verlust ihres Kindes beschäftigte, war vor allem die Hochzeit, die drei Wochen später stattfinden sollte. "Eins und eins macht zwei. Und bald zum Glück auch drei" stand auf der Einladung. "Wir haben dann beschlossen: Wenn Hennes es geschafft hat, dass wir heiraten, dann machen wir das auch." Bei der kirchlichen Trauung trug Franzi im schneeweißen Kleid eine schwarze Schleife um ihre Taille, als Erinnerung an Hennes. Kurz darauf flog sie mit ihrem Mann über Weihnachten und Silvester nach New York.

Die Flüge hatte das Paar noch im Krankenhaus gebucht. "Ich musste weg aus Köln. Das war eine Reise, die ich mit meinem Mann und meinem Sohn erlebt habe." Die richtige Trauer begann erst, als ihr Mann im Januar wieder arbeiten gehen musste und sie alleine zu Hause war. "Ich habe mich eingeschlossen, hatte immer das Gefühl, dass alle gucken und reden." Keiner hätte gewusst, wie er mit ihr umgehen sollte. "Manche haben auch gesagt: »Ach, beim nächsten Mal klappt es schon.« Diese Leute hätte ich erwürgen können." Nicht mal beim Arzt konnte sie anrufen, um sich eine Krankmeldung ausstellen zu lassen. Geholfen hat ihr in dieser Zeit das "Sternenkinder-Forum" im Internet. "Am Anfang dachte ich, ich wäre die einzige Person, der dieses Leid zugestoßen ist, aber im Forum habe ich Zuspruch und Ratschläge bekommen." Hier schrieb sie auch täglich Briefe an Hennes, erzählte ihm von ihrem Tag, chattete mit anderen Betroffenen.

Die zweite Schwangerschaft

Wirklich besser ging es ihr jedoch erst, als sie an einem sonnigen, aber kalten Februartag von ihrer erneuten Schwangerschaft erfuhr - mit Hilfe eines Schwangerschaftstests aus dem Drogeriemarkt. Das erste Mal beim Arzt war sie an Weiberfastnacht. Damals in der vierten Woche konnte der Gynäkologe noch keine Herztöne feststellen, nur Bewegungen. "Die ganze Zeit über hatte ich mir ja nichts sehnlicher gewünscht, als endlich ein Kind im Arm zu halten, endlich das Schreien zu hören." Trotzdem hatte sie große Angst, dass auch diese Schwangerschaft scheitern könnte. Jeden Abend hörte sie mit einem speziellen Gerät die Herztöne ihres Babys ab, ließ letztlich sogar die Geburt künstlich einleiten. "Es ist völlig normal, dass Eltern, die nach einer Fehlgeburt erneut schwanger werden, viel angstbesessener sind", sagt Seelsorgerin Anne Kruse.

Am 7. Oktober wurde Hannah geboren. "Wenn ich sie beim Schlafen beobachte, stelle ich mir oft vor, wie Hennes wohl ausgesehen hätte. Dass ich darauf nie eine Antwort bekommen werde, macht mich sehr traurig." Trotzdem: Franzi ist Mutter von zwei Kindern. Sie ist sich sicher: "Irgendwo existiert Hennes weiter. Gerade jetzt schlägt er bestimmt seine Purzelbäume auf einer Wolke." Am 2. Dezember haben Franzi, ihr Mann und Hannah Hennes' ersten Geburtstag gefeiert. Sie haben nach einem Tag auf dem Weihnachtsmarkt im Brauhaus bei Bier, Frikadellen und Kartoffelsalat auf ihr totes Kind angestoßen.

www.sternenkinder.de