Die Mutter macht sich wie ein Kleinkind in die Hose, der Ehemann weiß nicht mehr, wie er sich ein Brot schmiert: Die Pflege demenzkranker Menschen ist für Angehörige oft eine Geduldsprobe. Fehlt die Kraft, kann das in Aggressionen umschlagen. Es fallen harte Worte, der Pflegebedürftige wird unsanft ins Bett befördert - manchmal bricht sich die Wut auch mit Schlägen oder Stößen Bahn. Merken Angehörige, dass sie sich mit der Betreuung überfordert fühlen, müssen sie sich Hilfe suchen.
Mit der Belastung steigt die Aggression
"Gewalt gegen Pflegebedürftige muss nicht eine Ohrfeige oder ein Schubser sein", sagt Wilfried Schnepp, Professor für familienorientierte und gemeindenahe Pflege an der Universität Witten/Herdecke. "Das fängt schon an, wenn der Betroffene häufig eingeschlossen oder angepflaumt wird." Bei Gewalt gegen pflegebedürftige Angehörige ließen sich zwei Gruppen unterscheiden. "In manchen Familien ist Gewalt im gegenseitigen Miteinander Alltag - das setzt sich in der Pflegesituation fort." Oft sei Gewalt in der häuslichen Pflege aber ein Zeichen dafür, dass Angehörige überfordert sind. "Studien zeigen eine Korrelation, dass mit der Belastung der Pflegenden auch die Aggressivität steigt."
Besonders problematisch sei die Pflege oft, wenn die Beziehung schon vor der Erkrankung angespannt war, sagt Claudia Schacke, Professorin für Soziale Gerontologie an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin. "Gerade Kinder, die eher ein schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern hatten, übernehmen oft die Pflege, weil sie sich späte Dankbarkeit erwarten." Stärker gefährdet seien auch Menschen mit geringen finanziellen Mitteln, die sich zusätzliche Hilfen nicht leisten können, sagt Susanne Zank, Professorin für Rehabilitationswissenschaftliche Gerontologie an der Universität Köln. "Sich fast den kompletten Tag um jemanden kümmern zu müssen, ist für Menschen, die eigentlich mehr arbeiten müssten besonders hart." Ein erstes Anzeichen der Überforderung sei es, wenn Pflegebedürftige angeschrien werden. In einer Studie aus dem Jahr 2004 hatten 88 Prozent der Befragten angegeben, in den vorangegangenen zwei Wochen gegenüber dem Pflegebedürftigen laut geworden zu sein. "Das kann noch vertretbar sein", sagt Zank. "Mit jedem geht mal der Gaul durch, gerade bei hohem Stress." Spürt der Pflegende jedoch, dass er gegenüber dem Angehörigen aggressiv wird, sollte er die Situation möglichst auflösen. "Will sich ein Demenzkranker zum Beispiel partout nicht beim Zähneputzen helfen lassen, verlasse ich am besten für ein paar Minuten den Raum", empfiehlt Claudia Schacke. "Wenn ich am liebsten losschreien möchte, zähle ich langsam bis zehn, bevor ich etwas sage."
Um ruhiger zu werden, sei es empfehlenswert, einige Sekunden tief durchzuatmen, empfiehlt Wilfried Schnepp. "Der Pflegende muss sich Kraftquellen suchen, die ihm helfen, die Angespanntheit zu verlieren." Dies könne der wöchentliche Gottesdienst oder der Stammtisch mit Freunden sein. "Angehörige müssen darauf achten, sich selbst nicht zu vernachlässigen", bekräftigt Zank.
Dazu sei es wichtig, gelegentliche Verzweiflung und Wut zu akzeptieren. Viele würden sich für diese Gefühle schämen und umso gereizter auf unbewusste Provokationen des Pflegebedürftigen reagieren. "Man muss sich klarmachen: Das ist nicht mehr der gleiche Mensch wie vor der Krankheit. Er weist meine Hilfe nicht bewusst zurück, sondern er ist verwirrt."
Bemerkt der Pflegende, dass er den Demenzkranken wiederholt beschimpft, damit droht, ihn ins Heim zu stecken oder härter anpackt, dürfe er diese Warnzeichen nicht ignorieren. 2004 hatten fast 40 Prozent der Befragten angegeben, ihren pflegebedürftigen Angehörigen grob anzufassen. Auch wer den Pflegebedürftigen vernachlässige, ihn beispielsweise nicht mehr regelmäßig wasche oder häufig im Zimmer einschließe, müsse sich eingestehen, mit der Pflege überfordert zu sein. "Pflege wird oft als Familienangelegenheit betrachtet, viele haben Hemmungen, externe Hilfe anzunehmen", sagt Schnepp.
Unterstützung finden Betroffene bei regionalen Pflegestützpunkten und bei den städtischen Sozialämtern. "Dort kann man sich beraten lassen, welche zusätzlichen Hilfen man über die Pflegeversicherung in Anspruch nehmen kann, um sich etwas zu entlasten", sagt Schacke. Gespräche mit dem ambulanten Pflegedienst könnten Angehörigen helfen, Fehler zu vermeiden. Susanne Zank empfiehlt außerdem, Kontakt zu anderen Betroffenen zu suchen. "Es ist sehr wichtig, dass man sich mit anderen über Probleme oder Schuldgefühle austauscht." Möglich sei dies in Selbsthilfegruppen oder angeleiteten Gruppengesprächen, wie sie etwa in Regionalbüros der Alzheimer-Gesellschaft, Gedächtnisambulanzen oder gerontopsychiatrischen Kliniken angeboten würden, so Zank.
Ein Heim kann die Alternative sein
Lassen sich die Konflikte bei der Betreuung des Demenzkranken nicht ausräumen, kann die Überweisung ins Heim die bessere Variante sein. "Es gibt dann keine Dauerbelastung mehr und ich kann meinen Angehörigen häufig besuchen gehen", sagt Zank. Dies sei oft eine schmerzhafte Lösung, aber besser als permanent schwelende Aggressionen.