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Rundschau-Debatte des TagesDurchbruch für EU-Migrationspolitik?

Lesezeit 4 Minuten
Menschen mit Koffern stehen in einer Reihe.

Das EU-Parlament fordert schnellere Verfahren an den Außengrenzen.

Beim Thema Asyl und Einwanderung dreht sich Europa im Kreis: Eine umfassende Reform lässt seit Jahren auf sich warten. Nun hat zumindest das EU-Parlament einen Kompromiss gefunden.

Nach langen Diskussionen hat das EU-Parlament eine gemeinsame Asyl-Linie gefunden. Es fordert unter anderem schnellere Verfahren an den Außengrenzen und Solidarität unter den Mitgliedstaaten. Ist das nun das Startsignal für die gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik?

Am langen Sandstrand von Steccato di Cutro an der kalabrischen Küste, wo im Sommer unzählige Italien-Touristen ihre Handtücher ausbreiten, wurden vor knapp einem Monat fast 80 Leichen angeschwemmt. Kinder, Teenager, Erwachsene – Menschen auf der Flucht, die auf dem Weg nach Europa ihr Leben verloren. Wieder einmal.

Während die Europäer empört und schockiert auf die Bilder der Särge reagierten, forderten die Regierungen der Mittelmeerstaaten wie Spanien, Griechenland oder Italien in der Folge abermals mehr Solidarität der Partner – und vor allem eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik der EU. Doch Fortschritte beim größten Streitthema in der Gemeinschaft sind seit Jahren langsam und zäh. Sendet nun das EU-Parlament „das Startsignal für die gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik“, wie der FDP-Europaabgeordnete Jan-Christoph Oetjen am Dienstag hoffte?

Kompromiss der Abgeordneten

Der zuständige Ausschuss des Abgeordnetenhauses einigte sich in Brüssel nach eineinhalb Jahren Verhandlungen auf eine Position. Das Hohe Haus Europas fordert unter anderem schnellere Verfahren an den EU-Außengrenzen sowie Solidarität unter den Mitgliedstaaten in Krisenzeiten. Im nächsten Schritt müssen sich die 27 Partner einigen. Auf Drängen des Parlaments soll der Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, noch vor den Sommerferien zu einer Haltung kommen, damit der Pakt bis zu den Europawahlen im Frühjahr 2024 verabschiedet werden kann. Man zeige mit dem Beschluss, „dass in der Asyl- und Migrationspolitik ein Kompromiss über politische und geografische Grenzen hinweg möglich ist“, sagte die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel.

Konsequenter abschieben

„Vor allem die bekannten Probleme der zu langen Asylverfahrensdauer sowie der mangelnden Rückführung packen wir an“, lobte die CDU-Europaabgeordnete Lena Düpont. Ziel sei es, so früh wie möglich über die Schutzbedürftigkeit von Migranten zu entscheiden. Ohne diesen Status müsse sich „eine konsequente Rückführung möglichst nahtlos anschließen“, so Düpont. Dafür ist ein neues Screening-Verfahren geplant, durch das alle irregulär eingereisten Menschen registriert werden sollen und gleichwohl eine Identitäts- und Sicherheitsprüfung durchlaufen. „So stellen wir in der EU sicher, dass wir stets wissen, wer einreist“, sagte Sippel.

Bessere Verteilung

Zudem ist ein Mechanismus geplant, der die Solidarität im Kreis der Union organisieren soll. Demnach können Mitgliedstaaten Kontingente von anderen Mitgliedstaaten übernehmen. Man schreibe laut Sippel „in Situationen von erhöhtem Migrationsdruck handfeste und verpflichtende Solidaritätsmaßnahmen“ vor. Der Mechanismus soll vor allem die Mittelmeer-Staaten, wo die meisten Flüchtlinge ankommen, entlasten. Die EU-Kommission hatte bereits im September 2020 eine entsprechende Reform vorgeschlagen. Damit sollte der jahrelange Streit zwischen den EU-Partnern überwunden werden, doch das Reizthema spaltet weiterhin die Gemeinschaft, insbesondere wenn es um die Frage der Verteilung geht. Die sogenannten Dublin-Regeln, nach denen der Staat der ersten Einreise zuständig ist, sollen nach der Parlamentsposition nicht angefasst werden – auch wenn es kein Geheimnis ist, dass sie nicht funktionieren.

Zwei politische Lager

Das Problem liegt in den Regierungszentralen der 27 Hauptstädte. Sie teilen sich grob in zwei Lager auf – und stehen sich unversöhnlich gegenüber: Hier jene Länder wie etwa Ungarn oder Polen, die auf Abschreckung setzen und auch Instrumente wie Grenzzäune befürworten. Sie lehnen eine verbindliche Quote vehement ab. Dort die Gruppe jener Staaten, die sich aufnahmebereit zeigen und an die Solidarität der anderen appellieren. Deutschland etwa unterstützt die Idee, Schutzsuchende auf alle EU-Länder zu verteilen. Eine verpflichtende Verteilung ist in der Parlamentsposition derweil nur in absoluten Ausnahmefällen vorgesehen.

Kritik von links

Während Oetjen von einem „großen Gewinn für die Rechtsstaatlichkeit und Humanität in der gesamten EU“ sprach, kritisierte die EU-Parlamentarierin Cornelia Ernst (Linke), es werde „eine neue Ära in Europa eingeleitet, die mit dem Recht auf Asyl nicht mehr viel zu tun hat“. Es sei zu erwarten, so Ernst, dass der Rat die Vorschläge „noch weiter massiv verwässern und dramatisch verschlechtern wird mit Blick auf die Grundrechte von Schutzsuchenden“. Oetjen dagegen hofft auf eine zügige Vereinbarung. „Jeder Tag ohne eine Einigung gefährdet das Leben von Menschen in Not und spielt den Rechten in Europa in die Hände.“


Mehr Bootsmigranten

Die Zahl der Flüchtlinge, die mit Booten über das Mittelmeer nach Italien kommen, ist rasant gestiegen. In den ersten drei Monaten des Jahres sind laut dem italienischen Innenministerium mehr als viermal so viele Migrantinnen und Migranten über die lebensgefährliche Route gekommen wie im Vorjahreszeitraum. Bis Montag registrierte das Ministerium 26.927 Erwachsene und Kinder; im ersten Quartal 2022 waren es nur 6543 und im ersten Quartal 2021 lediglich 6334.

Allein im März kamen laut Innenministerium bisher rund 12.500 Menschen über das Mittelmeer nach Italien. So erreichten am Freitag und Samstag rund 3000 Migrantinnen und Migranten die Insel Lampedusa. Ihnen waren das deutsche Seenotrettungsschiff „Louise Michel“ sowie Einsatzkräfte der italienischen Behörden auf dem offenen Meer zu Hilfe gekommen. Die „Louise Michel“ wurde anschließend auf Lampedusa vorübergehend festgesetzt, weil die Crew entgegen einer neuen Regelung mehrere Rettungsaktionen durchgeführt hatte, anstatt nach der ersten direkt einen Hafen anzusteuern. (kna)