Europa durchlebt eine Zeitenwende. Seit dem Amtsantritt Donald Trumps werden fast täglich alte Gewissheiten vom Tisch gefegt. Wie hat sich der Kontinent seit dem Selenskyj-Eklat im Weißen Haus verändert?
Trumps ScherbenWas der Bruch mit den USA für die Zukunft der EU bedeutet

Forciert das Aufrüsten der EU: Kommissionschefin Ursula von der Leyen
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Ursula von der Leyen verpasst die Liveshow im Weißen Haus. An jenem Abend Ende Februar, als US-Präsident Donald Trump und sein Vize J.D. Vance vor laufenden Kameras mit der Brechstange die alte Weltordnung zertrümmern und Europa in die Eigenständigkeit stürzen, befindet sich dessen Chefin irgendwo in mehr als 10.000 Metern Höhe über Pakistan. Die EU-Kommissionspräsidentin bekommt deshalb nicht in Echtzeit mit, wie Amerika aufhört, die Schutzmacht des demokratischen Westens zu sein.
Sie reist am 28. Februar 2025 aus Neu-Delhi zurück nach Brüssel. Am Morgen hatte sie mit den meisten der 26 EU-Kommissare, die sie begleiteten, Indien umgarnt und die Partnerschaft mit einem Hinweis auf eine seltene Planeten-Parade am Nachthimmel beschwört. Die Stimmung darf man sich als bestens vorstellen – bis die Truppe in Dubai zwischenlandet und wieder Handyempfang hat. Die Politiker sehen die Szenen, in denen Trump und Vance im Oval Office den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj demütigen und das Opfer des russischen Angriffskriegs zum eigentlichen Problem erklären.
In einer WhatsApp-Gruppe von EU-Außenministern beschließen diese am Abend, sich mit Selenskyj zu solidarisieren. Neben Staats- und Regierungschefs melden sich auch von der Leyen und EU-Ratspräsident António Costa zu Wort. „Sie sind nie allein“, richten sich die EU-Spitzen an den ukrainischen Präsidenten. Der retweetet alle Bekundungen mit einem Danke. Nur der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán schert aus und lobt Trump dafür, „mutig für den Frieden eingetreten“ zu sein.
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„Als ob Vance einen toten Fisch in unser Gesicht geklatscht hätte“
Es war der Vorgeschmack darauf, was in den Wochen danach folgen sollte. Amerika unter Donald Trump ist endgültig nicht mehr das Amerika, das 80 Jahre lang Europas Sicherheit garantierte. Der alte Kontinent ist auf sich gestellt, „alone at home“, wie es ein hochrangiger EU-Beamter nannte.
Dabei begann die Einsicht, dass man nicht mehr auf die USA zählen kann, den europäischen Spitzen bereits nach dem ersten Telefonat zwischen Trump und Wladimir Putin zu dämmern, als der US-Präsident wie selbstverständlich die russische Rhetorik übernahm, genauso wie Mitte Februar, als der US-Vizepräsident während der Münchner Sicherheitskonferenz die engsten Verbündeten beschimpfte. Es war, so zitierte ein EU-Offizieller einen Kollegen, „als ob Vance einen toten Fisch in unser Gesicht geklatscht“ hätte.
In etlichen Sitzungen erörtern die Europäer seitdem, wie sie sich beim Thema Sicherheit unabhängiger von Amerika machen und sich im Notfall selbst verteidigen können. Die Dringlichkeit, mit der das vorangetrieben wird, lässt aufhorchen. So zogen sich die EU-Botschafter für Beratungen mehrmals in einen sogenannten „sicheren Raum“ zurück – ohne Telefone, ohne Leaks. Und nicht zufällig kristallisieren sich neue Formate heraus, um Abweichler wie Ungarn zu umgehen.
Großbritanniens Premier Keir Starmer und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron preschten vor auf der Suche nach einer einheitlichen Antwort der europäischen Staaten auf das Vorgehen der USA. Sogenannte „Koalitionen der Willigen“ sollen Lösungen liefern, etwa wenn es um den Einsatz von Soldaten oder einen eigenen Waffenstillstandsplan unter Federführung der Briten und Franzosen für die Ukraine geht.
„Seid ihr dabei oder nicht?“, sei immer wieder gefragt worden, ohne dass jedoch jemand ausbuchstabieren konnte, „bei was genau“, wie ein hochrangiger Diplomat hinter den Kulissen sagte. Trotzdem wird es allgemein befürwortet, dass nun viel außerhalb des EU-Rahmens stattfindet. „Das EU-System wurde nicht für eine Militärkrise oder einen Krieg geschaffen.“ Die Verantwortung liege bei den einzelnen Ländern, so der Diplomat. „Die EU hat kein Mandat, über Leben und Tod von Soldaten zu entscheiden.“
Von der Leyen: Will Europa einen Krieg vermeiden, muss es auf einen Krieg vorbereitet sein
In Brüssel werden solche Formate begrüßt, weil sie die politische Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Einerseits. Andererseits pocht man darauf, dass nur die EU die Strukturen habe, 27 Staaten zusammenzubringen. Die Koordinierung der Ukraine-Politik etwa müsse weiterhin in Brüssel stattfinden. Und vor allem soll der Apparat finanziell helfen.
Von der Leyen wird ein guter politischer Instinkt zugeschrieben. Vielleicht liegt es daran, dass sie diesen Epochenbruch sofort als Chance verstand, die „Ära der Aufrüstung“ einzuleiten. „Will Europa einen Krieg vermeiden, muss es auf einen Krieg vorbereitet sein“, hatte sie wenige Tage nach dem Eklat in Washington bei der Vorstellung der Pläne gesagt, mit denen die Europäer Finanzmittel von fast 800 Milliarden Euro mobilisieren sollen.
Es war von der Leyens Kairos – ein Zeitfenster, sagt ein Insider, „um das Thema Verteidigung nach oben auf die Agenda zu ziehen“. Neben der Unterstützung der Ukraine soll fortan die Sicherheit Europas im Fokus stehen. Aufrüstung im großen Stil und dafür eine Lockerung der strikten Haushaltsregeln – vor nicht allzu langer Zeit hätten solche Vorschläge wahlweise Dramen oder Nervenzusammenbrüche in der Runde der 27 ausgelöst. Durch die veränderte Lage aber wurde die Kommission mit ihrem Vorstoß „glaubwürdig“, war aus von der Leyens Umkreis zu vernehmen. Das hat auch mit Deutschland und der angekündigten „Whatever it takes“-Mentalität in Berlin zu tun.
Es ist bereits kurz vor Mitternacht an diesem Gipfelabend Anfang März, als Olaf Scholz zur Pressekonferenz im Brüsseler Ratsgebäude erscheint. Zum Abendessen gab es Kabeljau, Lauch und Shrimps, der Kaffee wurde angesichts des historischen Beschlusses zur Wiederbewaffnung später als erwartet serviert. Nun spricht der Sozialdemokrat unter Neonröhren davon, dass sich Europa „entfesseln“ muss – als Vorbild diene Deutschland.
Merz steht im Mittelpunkt
Begleitet wurde Scholz vom Schatten des voraussichtlich neuen Kanzlers Friedrich Merz. Warum er seinen mutmaßlichen Nachfolger nicht gleich „mitgenommen“ habe, will ein Journalist wissen? Die Frage empfindet der Kanzler als Unverschämtheit. Dabei standen Merz und sein beispielloses, milliardenschweres Investitionsprogramm tatsächlich im Mittelpunkt des Spitzentreffens.
Wie als „Befreiung“ sei die Politikwende der Bundesrepublik wahrgenommen worden, hieß es. Die Finanzkraft und Kreditwürdigkeit der Deutschen, aber vor allem die Lockerung der Schuldenbremse und „völlige Umkehr der vergangenen Jahre deutscher Finanz- und Verteidigungspolitik“ ermöglichten erst die Rüstungsoffensive in Europa. Man könnte es auch so beschreiben: Die Deutschen unterlegen die französischen Sonntagsreden von Macron mit Geld – und könnten damit wieder in die Führungsrolle schlüpfen, die von ihnen erwartet wird.
Während die Nuklearmächte in Paris und London darüber sinnieren, nach einem möglichen Waffenstillstand Truppen in die Ukraine zur Friedenssicherung zu schicken, dürfte Berlin als Sicherheitsgarant einen großen Teil für die europäische Aufrüstung zahlen. Vorbei sollen die Zeiten sein, in denen Europas Armeen als „Bonsai-Streitkräfte“ verspottet wurden. Und was vor einem Jahr noch als kühnes Gedankenspiel weggelächelt worden wäre, scheint jetzt ein ernsthaftes Szenario: Die EU will sich im Frühjahr 2025 dazu aufmachen, eine Verteidigungsunion zu werden. Oder wird es doch nur ein Uniönchen?
Befürworter meinen, von der Leyen habe mit ihrem Verteidigungspaket den Rahmen geschaffen. Kritiker sprechen dagegen von Rechentricks. Man könnte sich darauf einigen, dass die Kommissionspräsidentin den Ländern zumindest einen Anstoß gegeben hat. Mitte der 1960er Jahre machte der Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller den Spruch bekannt: „Man kann die Pferde zur Tränke führen, saufen müssen sie aber selber.“ Nun ist es von der Leyen, die die Pferde zum Saufen zu bringen versucht.
Nach kürzester Zeit verfällt Europa in bekannte Muster und streitet übers Geld
Doch Frankreich, Italien oder Spanien, deren Schuldenstände zwischen 100 und 130 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen, weigern sich zu trinken. Jedenfalls lehnen sie das Angebot der Kommission, die ein 150 Milliarden Euro schweres Finanzierungsinstrument schaffen will, bislang ab. Damit könnten klamme Mitgliedstaaten einen Kredit zu günstigen Bedingungen aufnehmen, um Waffen und militärisches Gerät zu kaufen.
Das soll insbesondere für jene Länder interessant sein, die aufgrund ihrer Verschuldung weniger gute Konditionen auf dem Kapitalmarkt erhalten würden. Doch Paris und Co. haben keine Lust, neue nationale Schulden für die Verteidigung aufzunehmen oder Sozialleistungen zu kürzen. Vielmehr wünschen sie sich gemeinsame Schulden oder Zuschüsse, die sie nicht zurückbezahlen müssen.
Das Aufrüsten Europas stockt, bevor es wirklich begonnen hat. Man könnte auch sagen, die EU verfällt nach kürzester Zeit in bekannte Muster und streitet übers Geld. Während einige nord-, mittel- und osteuropäische Mitgliedstaaten, von Schweden und Finnland über Polen bis zum Baltikum, die Ukraine bis an die Grenze der eigenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unterstützen und selbst massiv aufrüsten, belassen es vorneweg Paris, Rom und Madrid gerne bei so nett klingenden wie kostenlosen Solidaritätsbekundungen.
Spaniens Premier Pedro Sánchez war immerhin ehrlich. Es sei „wichtig“ zu berücksichtigen, so sagte er, „dass die Herausforderungen, mit denen wir in der südlichen Nachbarschaft konfrontiert sind, anders sind als die, mit denen die östliche Flanke konfrontiert ist“. Übersetzt heißt das: Die Angst, dass Moskau in Madrid einmarschiert, hält sich angesichts der geografischen Entfernung in Grenzen – und deshalb auch die Lust, für eine Wiederbewaffnung zu bezahlen.
Die EU rühmt sich gerne damit, über fundamentale Krisen zu wachsen. Die Frage bleibt, ob die Mitgliedstaaten dieses Mal auch den politischen Willen dafür mitbringen.