Karl Lauterbach verweist auf Empfehlungen der Wissenschaft in der Corona-Krise: Auf dieser Basis habe die Politik die Bildungseinrichtungen teils für Monate geschlossen. Eine gewagte These.
Rundschau-Debatte des TagesWer verantwortet die Schulschließungen in Corona-Zeiten?
In der Corona-Pandemie mussten bundesweit Kitas und Schulen dicht machen. Die Schließungen dauerten Monate und hatten teils schlimme Folgen. Der heutige Bundesgesundheitsminister rechtfertigt jetzt die Entscheidung: Die Wissenschaft habe damals dazu geraten. Stimmt das?
Für Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) war es aus heutiger Sicht ein Fehler, Schulen und Kitas während der Corona-Pandemie so lange und in so weiten Teilen zu schließen. Einen Sündenbock hat er auch gefunden: Experten aus Wissenschaft und Forschung, die die Bundesregierung seinerzeit beraten haben. „Damals war die Wissenschaft in Deutschland der Meinung: Die Schulen müssen geschlossen werden, weil es dort zu Übertragungen kommt“, behauptete Lauterbach Anfang der Woche im ARD-„Morgenmagazin“. Das hätten die Wissenschaftler der Bundesregierung angeraten.
Unsichere Faktenlage zu Beginn
Richtig ist, dass am Anfang der Pandemie nur wenig über die Übertragungswege des Erregers Sars-CoV-2 bekannt war. Daher leitete die Politik zunächst sehr rigorose Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung ein. In den ersten Corona-Wellen blieben Schulen und Kitas teils monatelang geschlossen.
Weitgehend gesichert war schnell, dass Kinder nur sehr selten an Covid-19 erkranken. Doch inwieweit sie ohne Symptome ein Übertragungsrisiko darstellten, war am Anfang der Pandemie eines der meistdiskutierten Themen. Und auch in Sachen Schule und Kitas gab es damals keinen einheitlichen Standpunkt der Wissenschaft, sondern – je nach medizinischer Disziplin – unterschiedliche Sichtweisen.
Der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, stellte jüngst klar: „Wir haben immer Empfehlungen abgegeben, mit denen man den Betrieb in Schulen und Kitas hätte laufen lassen können, wenn auch unter Anstrengung.“ Es habe nie nur die Alternative gegeben: entweder wenige Tote oder Schulen offen halten, sagte er Ende Januar im „Zeit“-Interview. Aufgabe der Politik sei es gewesen, neben epidemiologischen auch ökonomische, soziale und psychologische Aspekte zu berücksichtigen.
Hinweise auf Schutz und Hygiene
Bereits im Herbst des ersten Corona-Jahres 2020 hieß es vom RKI: Bildungseinrichtungen hätten zwar eine Rolle im Infektionsgeschehen. Zugleich seien Schulen und Kitas entscheidend für Entwicklung, Bildung und Sozialisierung von Kindern und Jugendlichen und für die Berufstätigkeit der Eltern. „Es ist wichtig, diese Einrichtungen durch Einhalten von Hygienekonzepten weiter offen zu halten.“
Schon bevor Mitte März 2020 die meisten Schulen und Kitas bundesweit fast flächendeckend dicht machen, erklärten Forschende wie die Virologin Ulrike Protzer von der Technischen Universität und vom Helmholtz Zentrum München einschränkend: „Schulschließungen können sinnvoll sein, wenn man Hygiene-Maßnahmen nicht gewährleisten kann.“ Damals forderte etwa die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH), Schulen und Kitas so zu organisieren, dass Kinder und Jugendliche lernten, Hygieneregeln umzusetzen. Der auf Infektiologie spezialisierte Facharzt und DGKH-Sprecher Peter Walger sagte: „Es lohnt nicht, Schulen zu schließen.“
Auch der Berliner Charité-Virologe Christian Drosten, der bis heute von diversen Protagonisten immer wieder für die Corona-Politik der Bundesregierung persönlich verantwortlich gemacht wird, sah Maßnahmen in Sachen Schule und Kita schon frühzeitig differenziert. Einen Tag nachdem die meisten Bundesländer erstmals Schulschließungen festlegen, sagte er im NDR-Podcast „Coronavirus Update“ vom 13. März 2020: Es gebe „natürlich Unsicherheiten, auch vom wissenschaftlichen Hintergrund her“. Die Politik möge Entscheidungen „an die lokalen Gegebenheiten“ anpassen – „auch mit Leuten, die sich mit Schule auskennen, mit Sozialstrukturen und so weiter“. Neben Virologen sollten auch Experten anderer Disziplinen herangezogen werden. Später im Jahr 2020 stellte Drosten noch einmal klar: „Mitte März ist nicht von der wissenschaftlichen Seite, wo ich auch dazugehörte, empfohlen worden, die Schulen zu schließen.“ Es sei vielmehr ein regionaler Ansatz empfohlen worden, so der Virologe am 15. September 2020.
Wiederöffnung früh gefordert
Im Mai 2020 forderten unter anderem die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte eine unbeschränkte Wiederöffnung der Kindergärten und Schulen. Der Schutz von Lehrern, Erziehern und Eltern sowie Hygieneregeln stünden dem nicht entgegen, heißt es in dem Papier der Wissenschaftler. Der Unterricht selbst in kompletten Klassen sei möglich, wenn sich Kinder in der Pause dann nicht mit anderen Klassen träfen. Dieser weitreichenden Forderung der medizinischen Fachgesellschaften erteilte seinerzeit Lauterbach – damals noch als SPD-Gesundheitsexperte in der Regierung mit der Union an wichtigen Entscheidungen beteiligt – eine Absage: Die Kinderärzte meinten es sehr gut. Leider sei es aber falsch, dass Kinder eine geringe Bedeutung für die Pandemie hätten, schreibt er auf Twitter.
Nach den Sommerferien im August 2020 wiederum hieß es in der Stellungnahme einer Kommission, der neben Drosten weitere Virologen wie Jonas Schmidt-Chanasit, Sandra Ciesek oder Melanie Brinkmann angehörten: „Wir befürworten jede Maßnahme, die dem Zweck dient, die Schulen und Bildungseinrichtungen in der kommenden Wintersaison offen zu halten.“ Dies sei für das Wohlergehen der Kinder unabdingbar. Es müssten pragmatische Konzepte vorliegen, um das Risiko einer Infektionsausbreitung an Schulen zu reduzieren.
Politische Entscheidung
Die strikte Forderung einer großflächigen Schließung der Kitas und Schulen durch wissenschaftliche Berater der Bundesregierung lässt sich also nicht finden. Die entsprechende Entscheidung ist schlussendlich auf politischer Ebene gefallen.
Die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) brachte das Verhältnis von Politik und Forschung denn auch einmal auf den Punkt: Wissenschaftliche Erkenntnisse über das Coronavirus könnten sich im Laufe der Zeit ändern – „damit müssen wir leben“, sagte sie im April 2020. Entscheidungen hingegen müssten politisch getroffen werden, unter Einbeziehung der Erkenntnisse verschiedener Disziplinen und der Abwägung unterschiedlicher Interessen. (dpa)
Mehr Depressionen bei Schülern
Coronabedingte Schulschließungen haben einer Studie zufolge zu einem deutlichen Anstieg von Depressionen bei Schülern geführt. Kinder und Jugendliche wiesen in dieser Zeit in einem europaweiten Vergleich zu 75 Prozent häufiger generelle Depressionssymptome auf als vor der Pandemie, ergab eine aktuelle Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden. Das Kernergebnis der Studie lautet: „Je strikter die Eindämmungsmaßnahmen wie etwa Schulschließungen waren, umso größer war die Zunahme von generellen Depressionssymptomen.“
Die Studie beschreibt „erstmals auf einer breiten europäischen Datenbasis, dass coronabedingte Schließungen mit einer Steigerung von Depressionssymptomen bei Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang stehen“, wie die Autoren hervorheben. In einem europaweiten Vergleich wurden demnach 22 Studien mit Daten vor und nach der Pandemie in einer systematischen Untersuchung analysiert.
Auch wenn die Pandemie in Europa weitgehend überstanden zu sein scheine, litten weiterhin viele junge Menschen an den psychischen Folgen. Welche Rolle dabei Schulschließungen spielten, war bisher umstritten. Die Wissenschaftlerin Helena Ludwig-Walz fasst die Ergebnisse so zusammen: „Pandemiebedingte Restriktionsmaßnahmen und Schulschließungen haben zu einem Anstieg der Depressionssymptome bei Jungen und bei Mädchen in Europa beigetragen.“ Die Forschungsergebnisse belegten „einen Anstieg genereller depressiver Symptome insgesamt“, vor allem bei männlichen Jugendlichen zwischen 16 und 19, so die Studie.
Bei der Auswertung klinisch relevanter Depressionsfälle zeige sich ebenfalls ein Anstieg, dieser liege hingegen klar bei Mädchen und jungen Frauen. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen GKV kritisiert unterdessen, dass bundesweit geltende Mindestvorgaben für die Personalstärke in psychiatrischen Krankenhäusern oft nicht eingehalten werden. 50 Prozent der Krankenhäuser für Kinder- und Jugendpsychiatrie und knapp 40 Prozent der psychiatrischen Krankenhäuser setzten in 2021 weniger Personal zur Versorgung der Patienten ein als vorgeschrieben. (kna)