AboAbonnieren

Rundschau-Debatte des TagesIst der Atomausstieg ein historischer Fehler?

Lesezeit 4 Minuten
Der Mond leuchtet zur blauen Stunde über dem Kernkraftwerk Neckarwestheim.

Der Mond leuchtet zur blauen Stunde über dem Kernkraftwerk Neckarwestheim.

AKW-Gegner feiern das Atomkraft-Ende an diesem Samstag mit „Abschaltfesten“. FDP, CDU und viele Experten sehen das Aus mehr als kritisch. Eine Analyse zu Chancen und Risiken.

Eine ganze Weile sah es so aus, als würde Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinem Ukraine-Krieg und dem Gas-Stopp tatsächlich die vierte Wende der deutschen Atom-Politik erzwingen: erst raus (Gerd Schröder), dann wieder rein (Angela Merkel), dann wieder raus (Angela Merkel), dann wieder rein (Olaf Scholz?). Selbst das Machtwort des SPD-Bundeskanzlers im Herbst konnte den Richtungsstreit zwischen Grünen und FDP nicht beenden.

Die FDP bleibt dabei: „Unsere Haltung ist klar. Wir halten das Aus am 15. April für falsch“, sagte der liberale Verkehrsminister Volker Wissing kürzlich noch einmal im Interview mit unserer Redaktion. Und so hegt vielleicht der ein oder andere Zweifel daran, ob mit der Abschaltung der drei letzten Meiler in Lingen, München und Neckar-Westheim an diesem Samstag auch wirklich und ein für alle Mal Schluss ist mit Atomstrom in Deutschland.

Dass die FDP eine Laufzeitverlängerung bis Mitte April durchboxte, ist durchaus anzuerkennen. Selbst der Beschluss, das Aus nur um wenige Monate hinauszuschieben und nicht länger, erschien im Herbst riskant. Ein besonders kalter Winter und LNG-Lieferengpässe hätten die Füllstände der Gasspeicher sinken und die Sorge vor dem nächsten Winter wachsen lassen.

Negative Folgen für das Klima

Jetzt ist der Frühling da. Und ein neuer Energiemangel in der Saison 2023/24 ist unwahrscheinlicher geworden. Das heißt: Mit der Weigerung, neue Brennstäbe zu bestellen und die letzten AKW noch ein paar Jahre länger am Netz zu lassen, könnte Wirtschaftsminister Robert Habeck durchkommen. Für das Land und das Klima ist das allerdings gar nicht gut. Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht nicht schnell genug voran, dass neue Spannungen am Strommarkt bis 2026/27 definitiv auszuschließen wären. Und statt mit Atomkraft wird erstmal mit Stein- und Braunkohle sowie gefracktem Gas Strom erzeugt.

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm hat nachgerechnet: Die Weiternutzung der AKW für vier Jahre hätte die Strompreise um 8 bis 12 Prozent und die CO2-Emissionen um 30 bis 40 Millionen Tonnen senken können. Atomkraft als klimaschonende Krisenüberbrückung: Es ist bitter, dass diese Chance nicht genutzt wird.

Langfristige Perspektive schlechter

Eine ganz andere Frage ist, ob Atomenergie dauerhaft Zukunft hat. So wird es im Ausland gern dargestellt. Auch die Franzosen zeigen mit dem Finger auf die spinnerten Alemannen, die aus Kohle und Atom aussteigen und mit ihren Windmühlen die Welt retten wollen.

Genährt wird die Diskussion von vielen Fragezeichen, die hinter der Energiewende stehen. Allen voran von Zweifeln daran, ob sich auch in der dunklen Jahreszeit genug Wind- und Sonnenstrom erzeugen lässt, um eine Industrienation am Laufen zu halten, die auch noch auf Wärmepumpen und Elektroautos umsteigen soll. Das wird noch ein paar Jahre spannend bleiben.

Wer allerdings meint, Atomstrom sei ein einfacher und billiger Weg in die postfossile Zukunft, der sollte mal genauer nach Frankreich schauen. Nicht nur, dass dort wegen zunehmender Dürren immer häufiger das Kühlwasser für die Meiler fehlen wird. Nicht nur, dass Störanfälligkeit und Wartungsbedarf von Jahr zu Jahr steigen und die Entsorgung des strahlenden Mülls ungeklärt ist. Das in der deutschen Debatte fast komplett ausgeklammerte Thema sind die horrenden Kosten, die dem französischen Staat durch die Atompolitik entstehen. Der Strom ist dort nur scheinbar billig, die Kosten werden in den Verlusten des staatlichen Versorgers EDF versteckt. Die verdeckten Subventionen sind so gewaltig, dass Frankreichs Staatsverschuldung zum Problem wird.

Das weiß auch FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner. Trotzdem will die Partei im nächsten Wahlkampf offenbar für eine Rückkehr zum Atomstrom werben. In Sachen AKW sei man bekanntlich anderer Meinung als die Grünen, sagte FDP-Minister Wissing unserer Redaktion. Und es sei gut, wenn die Unterschiede sichtbar werden „und die Bürgerinnen und Bürger ihre Wahlentscheidung daran ausrichten können“.

Ob sich eine neue Atomkraft-Sehnsucht im Volk bildet, wenn die Meiler einmal abgeschaltet sind? Oder ob die Bevölkerung das Thema einfach abhakt, sollte es nicht zu Blackouts in Serie kommen? Die FDP sollte jedenfalls gewarnt sein: Im Niedersachsen-Wahlkampf hatte sie eine aggressive Pro-Atom-Kampagne geführt. Das ging nach hinten los. Die Partei ist krachend aus dem Landtag geflogen.

Die mittelfristigen Aufgaben

Nach dem Atomausstieg strebt die Bundesregierung bis 2030 auch einen Ausstieg aus der Kohleverstromung an. „Damit steigen wir aus wichtigen Säulen für die gesicherte Stromerzeugung aus, also Kraftwerken, die liefern, wenn Wind und Sonne nicht bereitstehen“, sagt Timm Kehler vom Branchenverband Zukunft Gas. Neben erneuerbaren Energien müssten schnellstmöglich wasserstofffähige Gaskraftwerke aufgebaut sowie weitere, flexibel steuerbare Kapazitäten wie Stromspeicher verfügbar gemacht werden. Ähnlich äußert sich die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft Kerstin Andreae. Manuel Frondel vom RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen sagt mit Blick auf den Kohleausstieg, zusätzliche Erdgaskraftwerke hätten längst gebaut werden müssen. „Deutschland lebt zunehmend vom Prinzip Hoffnung und vertraut darauf, dass die Nachbarländer die wegfallenden Kapazitäten ausgleichen. Das ist aber wegen begrenzter grenzüberschreitender Netzkapazitäten nur eingeschränkt möglich.“ (mit dpa)