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Streit um LieferdiensteSind Pizzaboten eigentlich wirklich Selbstständige?

Lesezeit 4 Minuten
ARCHIV - 03.03.2022, Sachsen, Dresden: Zwei Fahrradkuriere tragen Rucksäcke mit dem Logo des Lebensmittel Lieferdienstes Flink. Online-Shopping und Essensbestellung im Internet boomen.

Mehr Geld, bessere Absicherung: Mitarbeiter von Dienstleistern sollen als Beschäftigte gelten.

Millionenfach falsche Einstufungen bei Lieferdiensten sorgen für Streit in Brüssel. Der europäische Gesetzgeber vermutet, dass rund 5,5 Millionen Menschen fälschlicherweise als Selbstständige eingestuft sind.

Die Dienste erleichtern nicht erst seit Corona das Leben von Millionen Menschen. Das Uber-Taxi kann per App bestellt werden, Kochmüde klicken sich durch Speisekarten, um ihre Pizza oder das Hähnchen-Curry in kürzester Zeit an die Tür geliefert zu bekommen. Dementsprechend rasen immer mehr Boten auf Fahrrädern, mit farblich auffallenden Warmhalteboxen auf dem Rücken, durch Europas Städte.

Uber, Lieferando und Co. bedienen die steigende Nachfrage nach schnellen und bequemen Dienstleistungen. Einerseits. Andererseits kritisieren Beobachter, dass Erfolg und Profit von digitalen Plattformen mit ihrem im Vergleich zum traditionellen Angebot oft günstigeren Service auch auf Kosten der Arbeiter erreicht werde. Die gelten häufig als Selbstständige, haben deshalb keinen Zugang zu Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, und von einem Mindestlohn können einige ebenfalls nur träumen.

Millionenfach falsche Einstufungen bei Lieferdiensten

Der europäische Gesetzgeber vermutet, dass rund 5,5 Millionen Menschen fälschlicherweise als Selbstständige eingestuft sind. Eigentlich wollte die EU diese Situation deshalb zügig ändern. Im Dezember hatte sich der entsprechende Ausschuss des Europäischen Parlaments auf einen Kompromiss geeinigt, der den ursprünglichen Kommissionsvorschlag noch verschärft hat. Die Volksvertreter vereinbarten, dass grundsätzlich alle Plattform-Arbeiter als beschäftigt gelten sollen.

Die betroffenen Firmen können dem dann widersprechen oder die Einstufung ändern, also die Beschäftigten als selbstständig klassifizieren, indem sie anhand festgelegter Kriterien den entsprechenden Beweis erbringen. Schon seit Wochen, so hatten die mit dem Thema betrauten Abgeordneten gehofft, wollte man mit den Mitgliedstaaten und der Kommission über eine endgültige Regelung verhandeln.

Unerwartet haben jedoch vergangenen Monat Politiker der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch die CDU/CSU gehören, Widerstand angekündigt. Die Christdemokraten sammelten 85 Unterschriften und damit genug, um zu erzwingen, dass über das Verhandlungsmandat am Donnerstag im großen Rahmen im EU-Parlament noch einmal abgestimmt werden muss. Kippt nun der Kompromiss?

Geschäftsmodelle, die nur funktionieren, weil Menschen durch Scheinselbstständigkeit um Zugang zu Mindestlohn und Sozialversicherung betrogen werden, braucht niemand.
Dennis Radtke, CDU-Politiker

Es geht um viel Geld. Von 2016 bis 2020 verfünffachten sich die Einnahmen jener Unternehmen und Start-ups laut Angaben der EU-Kommission nahezu von drei Milliarden Euro auf 14 Milliarden Euro. Allein im vergangenen Jahr waren mehr als 28 Millionen Menschen in der Gemeinschaft für eine oder mehrere dieser digitalen Plattformen tätig. Die Brüsseler Behörde schätzt, dass 2025 voraussichtlich 43 Millionen Bürger ihr Geld in der Industrie verdienen.

Auch deshalb äußerte die SPD-Europaabgeordnete Gaby Bischoff Unverständnis über die Last-Minute-Intervention. „Die Menschen haben keine Zeit für weitere Verzögerungen, dieses Thema ist zu wichtig für politische Spielchen.“ Doch auch die Liberalen wollen am Donnerstag gegen „den gefährlichen Kompromissvorschlag“ stimmen, wie die FDP-Europaabgeordnete Svenja Hahn ankündigte. Das Gesetz würde „de-facto zur weitgehenden Abschaffung der Solo-Selbstständigkeit führen“.

Dem widersprach der CDU-Politiker Dennis Radtke, der in dem Ausschuss maßgeblich an der Ausarbeitung der Richtlinie beteiligt war. Wer behaupte, dass die Vorschrift aus jedem hochqualifizierten Solo-Selbstständigen oder Handelsvertreter einen Angestellten mache, habe Unrecht. „Die sind selbstständig und sollen es auch bleiben.“ Dem christdemokratischen Europaabgeordneten gehe es vielmehr um zwei Punkte: „zum einen um einen wirksamen Schutz vor Ausbeutung, zum anderen auch um Fairness im Wettbewerb“. Dieser sei in Deutschland zwischen Taxis und Uber beispielsweise nicht gegeben. „Geschäftsmodelle, die nur funktionieren, weil Menschen durch Scheinselbstständigkeit um Zugang zu Mindestlohn und Sozialversicherung betrogen werden, braucht niemand“, sagte Radtke.

Der Lobbydruck ist hoch

Doch der Gegenwind, sowohl von Seiten der Liberalen als auch von einigen deutschen Konservativen, dürfte diese Woche noch zunehmen. Sie wittern mit dem Votum im Hohen Haus Europas ihre letzte Chance, doch noch Änderungen durchzusetzen. „Gerade vor dem Hintergrund des außergewöhnlich hohen Lobbydrucks von Plattformen wie Uber und Bolt wäre es sehr bedauerlich, wenn das Verhandlungsmandat nun erneut in Gefahr gerät“, klagte Bischoff, arbeitspolitische Sprecherin der Europa-SPD. Tatsächlich erzählen Insider, wie Branchenvertreter auf den Gängen der Parlamente in Straßburg und Brüssel Abgeordnete geradezu anfeuerten, die Vereinbarung „platzen zu lassen“. Radtke kritisierte die Methoden ebenfalls. „Der Lobbyismus, den ich den letzten Monaten erlebt habe, hat jedes Maß verloren“, sagte der CDU-Mann. Hier werde „mit allen Tricks und aller Härte versucht, eine Regulierung zu verhindern“.

Welche Seite sich am Ende durchsetzt, wird sich am Donnerstag zeigen.